Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
41
Die sich aus der Sicht des griechischen Verfassungsrechts ergebenden Grenzen der Integration sind zunächst in den die verfassungsrechtliche Absicherung der „Öffnung“ der griechischen Rechtsordnung regelnden Verfassungsbestimmungen des Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. sowie in der Interpretationserklärung, die diesem Artikel beigefügt ist, zu suchen. Aus dem Wortlaut der Vorschriften ergibt sich auch ihr Anwendungsbereich. Während die beiden ersten Vorschriften in Fällen einer „Zuerkennung von Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen“ und von „Einschränkungen der Ausübung der nationalen Souveränität“ Anwendung finden, erstreckt sich die Interpretationserklärung auf „die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“ schlechthin. Die zuletzt genannte quasiverfassungsrechtliche Grundlage könnte somit dahin interpretiert werden, dass sie auch Integrationsschritte zu legitimieren vermag, die über die Zuerkennung von Zuständigkeiten und Souveränitätseinschränkungen hinausgehen. Aus dem Umstand, dass nach dieser Interpretationserklärung Art. 28 Verf. in toto als Grundlage für diese „Vollendung“ zu gelten hat, ist aus einer teleologischen Auslegung zu schließen, dass auch für diese „Vollendung“ alle in den Abs. 2 und 3 vorgesehenen Voraussetzungen in jedem Fall vorliegen müssen. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um vier materielle Grenzen: Die Menschenrechte und die Grundlagen der demokratischen Staatsordnung dürfen nicht berührt werden; zudem soll die Einschränkung der Ausübung der nationalen Souveränität in Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit erfolgen.
42
Während sich die Lehre mit diesen vier Voraussetzungen – gleichwohl nicht intensiv – beschäftigt hat, hat die Rechtsprechung keinen Anlass gesehen, sich dazu zu äußern. Nach dem überwiegenden Teil des Schrifttums kann eine gerichtliche Kontrolle des Vorliegens dieser Voraussetzungen, zumindest in extremen Fällen, nicht ausgeschlossen werden.[79] Hinsichtlich der obigen Voraussetzungen kann man ferner Folgendes bemerken: Die in der griechischen Verfassung für die beiden ersten Voraussetzungen verwendete Formulierung ist so allgemein, dass sie bis heute keinerlei Schwierigkeiten – etwa wegen Fehlens eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalogs oder wegen Demokratiedefiziten des gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungsverfahrens – bereitet hat. Im Schrifttum wurden gelegentlich Zweifel daran geäußert, inwieweit ein Europa „der zwei Geschwindigkeiten“ oder ein uneingeschränkter und bedingungsloser Übergang zum Mehrheitsprinzip dem dritten verfassungsrechtlichen Erfordernis der Gleichberechtigung genügen würde, selbst wenn man die Gleichheit, zu Recht, als proportionale Gleichheit[80] versteht. Außerdem wurde hervorgehoben, dass die Erteilung einer Blankett-Ermächtigung an die EU, weitere, neue Zuständigkeiten auszuüben oder neue Souveränitätseinschränkungen herbeizuführen, den Rahmen einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Zuerkennung von Zuständigkeiten oder Souveränitätseinschränkungen sprengen würde, da die diesbezüglichen Entscheidungen ausschließlich dem Parlament zustünden. Zu betonen ist ferner, dass nach der h.L. die obigen Voraussetzungen und insbesondere die Gegenseitigkeit nicht nur beim Beitritt oder bei der Ratifikation der Änderungsverträge, sondern während der gesamten Mitgliedschaft vorliegen müssen.
43
Grenzen für die Integration könnten sich außerdem aus der Verfassungsbestimmung ergeben, die für bestimmte Verfassungsvorschriften oder -prinzipien eine so genannte „Ewigkeitsgarantie“ vorsieht. So verbietet die Verfassung in Art. 110 Abs. 1 die Änderung der Bestimmungen über die Staatsgrundlagen und die Staatsform als „präsidierte“ parlamentarische Demokratie sowie der Bestimmungen der Art. 2 Abs. 1 Verf. (Schutz der Menschenwürde), Art. 4 Abs. 1 (Gleichheitssatz), Abs. 4 (gleicher und ausschließlicher Zugang der griechischen Staatsbürger zu den öffentlichen Ämtern) und Abs. 7 Verf. (Verbot der Verleihung und Anerkennung von Adelstiteln oder Rangbezeichnungen für griechische Staatsbürger), Art. 5 Abs. 1 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) und Abs. 3 Verf. (Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit), Art. 13 Abs. 1 Verf. (Freiheit des religiösen Gewissens) und Art. 26 Verf. (Gewaltenteilungsprinzip).
44
Die Frage des Verhältnisses von Art. 28 Verf., der die „Öffnung“ der griechischen Rechtsordnung legitimiert, und Art. 110 Abs. 1 Verf., der für bestimmte Verfassungsvorschriften eine Ewigkeitsgarantie gewährleistet, ist nicht leicht zu beantworten. Die materiellen Grenzen der sich aufgrund von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. einschließlich der angehängten Interpretationserklärung stillschweigend vollziehenden Verfassungsmodifizierung sind grundsätzlich in diesen als leges speciales für den Bereich der europäischen Integration geltenden Verfassungsbestimmungen zu suchen.[81] Jedenfalls ist bei der Anwendung von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. eine restriktive Auslegung von Art. 110 Abs. 1 Verf. geboten.[82] Demgegenüber wird im Schrifttum auch die Auffassung vertreten, dass als äußerste Grenze der Integration die in Art. 110 Abs. 1 Verf. vorgesehenen materiellen Grenzen einer Verfassungsänderung zu gelten haben.[83] War allerdings diese Meinung gut vertretbar, bevor die Interpretationserklärung durch die Verfassungsrevision des Jahres 2001 in Art. 28 Verf. aufgenommen wurde, so könnte die Berücksichtigung der Interpretationserklärung zu anderen Schlussfolgerungen führen. Man kann sie nämlich dahingehend interpretieren, dass Art. 28 Verf. nunmehr „die Beteiligung des Landes am Prozess der europäischen Vollendung“ ausschließlich regelt, so dass nur in dieser Vorschrift die Grenzen der Integration zu suchen sind. Das bereits früher, vor der Aufnahme der Interpretationserklärung gegen die Deutung der Bestimmungen von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. als spezielle stillschweigende Revisionsklausel für den Bereich der europäischen Integration vorgebrachte Argument, dass die griechische Verfassung eine formelle, so genannte „starre“ Verfassung sei, die nur im Rahmen des in Art. 110 Abs. 2–6 Verf. vorgesehenen Verfahrens und unter Beachtung der in Art. 110 Abs. 1 Verf. vorgesehenen materiellen Grenzen geändert werden könne,[84] scheint daher – wie die bisherige Ratifikationspraxis zeigt – umso mehr an Plausibilität zu verlieren, je weiter die Integration voranschreitet. Außerdem ist festzustellen, dass nicht nur die mit einer Ewigkeitsgarantie versehenen Art. 4 Abs. 4 Verf. (Zugang nur griechischer Staatsbürger zu den öffentlichen Ämtern) und Art. 26 Verf. (Gewaltenteilung) kraft Gemeinschaftsrecht im Ergebnis seit langem geändert wurden, sondern darüber hinaus die problemlose Ratifizierung des VVE – und damit auch seines Art. I-6, der den Vorrang des Unionsrechts unterschiedslos, d.h. auch gegenüber der Verfassung gewährleistet – gezeigt hat, dass in der Praxis auch die Ewigkeitsgarantien nicht in der Lage sind, politische Entwicklungen zu stoppen. Allerdings kann man nicht vorhersehen, welche verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten sich ergeben werden, wenn die Integration so weit voranschreiten würde, dass sie den Kern der mit einer Ewigkeitsgarantie versehenen Bestimmungen über die Staatsgrundlagen und die Staatsform als „präsidierte“ parlamentarische Demokratie gefährden würde.
45
Abschließend ist zu bemerken, dass die Frage möglicher verfassungsrechtlicher Grenzen der Integration in der Wissenschaft selten und in der Politik kaum Gegenstand von vertieften Diskussionen und Auseinandersetzungen gewesen ist.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 16 Offene Staatlichkeit: Griechenland › III. Verfassungsrecht und EMRK
a) Die Vorgeschichte
46
Griechenland hatte die EMRK am 28.11.1950, d.h. einige Wochen nach ihrem Abschluss (4.11.1950), unterschrieben und aufgrund des Gesetzes 2329/1953 ratifiziert. Nach der damals geltenden Verfassung von 1952 war die Stellung des Völkerrechts in der Verfassung nicht geregelt. Die Rechtsprechung hatte allerdings bereits seit dem Urteil 14/1896 des Areopags die Geltung des Völkergewohnheitsrechts als „innerstaatliches Gesetz“ anerkannt. Die durch Gesetz ratifizierten völkerrechtlichen Verträge