Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
1952 vorgesehenen privilegierten Behandlung der „vorherrschenden Religion“ – dort war nämlich ein Verbot des Proselytismus (d.h. von Bekehrungsversuchen durch den Gebrauch unlauterer Mittel) und jedes anderen Angriffs nur gegenüber der vorherrschenden Religion enthalten – mit der in der EMRK garantierten Religionsfreiheit (Art. 9) in Zweifel gezogen worden.[100] Auch wenn Art. 13 Abs. 2 Verf. das Verbot des Proselytismus gegenüber allen Religionen nunmehr unterschiedslos gewährleistet, könnte dieses Verbot aus der Sicht von Art. 9 EMRK fraglich erscheinen und würde einer Verhältnismäßigkeitskontrolle nicht ohne weiteres standhalten.[101] Die mehrfachen Verurteilungen Griechenlands durch den EGMR wegen einer Verletzung von Art. 9 EMRK[102] zeigen allerdings – und zwar nicht nur bezüglich des zuletzt genannten Verfassungsverbots, sondern allgemeiner –, dass aus der Sicht der EMRK nicht die Garantie der Religionsfreiheit in Art. 13 Verf. als solche problematisch ist, sondern ihre Ausgestaltung bzw. Konkretisierung durch den Gesetzgeber sowie ihre Handhabung durch die Verwaltung.[103]
54
Über diese Fälle hinaus kann die EMRK angesichts ihres übergesetzlichen Ranges bei der gesetzgeberischen Ausgestaltung der Ausübungsmodalitäten der in der Verfassung garantierten Grundrechte bzw. bei der Beurteilung von gesetzlichen Einschränkungen eine wichtige Rolle spielen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch ihre herausragende Bedeutung als Ergänzung bzw. Erweiterung des Verfassungsrechts im Bereich des Grundrechtsschutzes nicht zu leugnen. Die griechischen Gerichte sind außerdem bezüglich der EMRK ihrer sonst bei völkerrechtlichen Verträgen zu beobachtenden Praxis nicht gefolgt, deren Vorschriften für nicht unmittelbar anwendbar zu erklären und sie deshalb nicht anzuwenden, mit der Folge, dass der Einzelne ihre Verletzung nicht geltend machen kann.[104] Vielmehr sehen Rechtsprechung und Lehre eine gerichtliche Kontrolle der Gesetze anhand der EMRK als etwas Selbstverständliches an, obwohl eine solche Kontrolle in der Verfassung – im Gegensatz zur gerichtlichen Kontrolle der Gesetze anhand der Verfassung[105] – nicht vorgesehen ist. Die gerichtliche Überprüfung der Konventionsmäßigkeit von Gesetzen wird entweder mit einer Analogie der in der Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Verfassungsmäßigkeitskontrolle oder mit dem übergesetzlichen Rang der EMRK schlechthin begründet bzw. gerechtfertigt.[106] Umstritten bleibt indes, ob diese Kontrolle auch von Amts wegen erfolgt.[107] Allerdings ist der Oberste Sondergerichtshof, der nach Art. 100 Abs. 4 Satz 2 Verf. allein die Zuständigkeit besitzt, ein für verfassungswidrig befundenes Gesetz für unwirksam zu erklären, nicht befugt, ein konventionswidriges Gesetz für nichtig zu erklären.[108]
3. Die praktische Bedeutung der EMRK und des EGMR für das nationale Verfassungsrecht
55
War die EMRK in der ersten Periode ihrer Geltung in der griechischen Rechtsordnung (1953–1969) für das griechische Verfassungsrecht ohne jegliche Bedeutung, hat sich diese Situation nach ihrer erneuten Ratifizierung nach der Wiederherstellung der Demokratie (1974) nicht schlagartig geändert. Bis zur Anerkennung der Zuständigkeit der EKMR, über Individualbeschwerden zu entscheiden (1985), aber auch danach ist sie von den griechischen Gerichten relativ wenig berücksichtigt worden. Die Gerichte haben in dieser Zeit zunächst nur zögernd auf die EMRK Bezug genommen, indem sie sie oft nur erwähnt haben, um sodann auf den Vorrang der Verfassung hinzuweisen. Bezeichnend für diese Zeit ist die Aussage eines Richters in den 1980er Jahren, dass in Griechenland die EMRK im Schatten der Verfassung lebt.[109] Von wenigen Ausnahmen abgesehen galt dies bis Mitte oder sogar Ende der 1990er Jahre.
56
Eine Neujustierung der Haltung gegenüber EMRK und EGMR-Rechtsprechung scheint mit der Entscheidung 40/1998 des Areopags stattgefunden zu haben. Nach ständiger, wenn auch umstrittener[110] Rechtsprechung wird der Begriff „Eigentum“ sehr restriktiv ausgelegt: Nur dingliche Rechte sind vom verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff (Art. 17 Abs. 1 Verf.) erfasst. Unter Berufung auf den weiteren Schutz, den Art. 1 1. ZP-EMRK für das Vermögen insgesamt gewährt, ist der Areopag, das oberste Zivil- und Strafgericht (Kassationsgerichtshof), dazu übergegangen, einen weiteren Schutz nicht nur für Forderungen, sondern auch für alle „Rechte mit Vermögenscharakter“ sowie „erworbene wirtschaftliche Interessen“ zu gewähren.[111] Wie dieser Leitentscheidung des Areopags zu entnehmen ist, ist der Rechtsprechungswandel nicht nur vom Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 1. ZP-EMRK,[112] sondern auch von der weiten Auslegung des Vermögensbegriffs in der Rechtsprechung des EGMR inspiriert. Es bleibt abzuwarten – und dies ist angesichts der bevorstehenden Reformen auf dem Gebiet der Sozialversicherung von besonderer Bedeutung -, inwieweit sich der Areopag der Rechtsprechung des EGMR anschließen und auch öffentlich-rechtlichen Ansprüchen, insbesondere solchen im Bereich der Sozialversicherung, den weiteren Schutz von Art. 1 1. ZP-EMRK gewähren wird.[113]
57
Über den Bereich des Eigentumsschutzes hinaus sind in der Praxis die Fälle eher selten, in denen EMRK-Vorschriften von der Rechtsprechung zu einer Absicherung bzw. Erweiterung des Anwendungsbereichs von Grundrechtsbestimmungen der Verfassung herangezogen wurden. Zu den wenigen Ausnahmen zählt die in Art. 6 Abs. 2 EMRK gewährleistete Unschuldsvermutung, die dazu verwandt wird, die Anforderungen an die in Art. 93 Abs. 3 Verf. vorgeschriebene Begründungspflicht für Gerichtsentscheidungen im Hinblick auf freisprechende Entscheidungen zu senken.[114] Insgesamt spielt Art. 6 EMRK eine immer wichtigere Rolle in der Rechtsprechung griechischer Gerichte.
58
Abschließend sei angemerkt, dass die ursprünglich sehr negative Haltung der griechischen Gerichte gegenüber der Einbeziehung der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung weniger auf eine „Treue“ zum Rang der Verfassung in der innerstaatlichen Normenhierarchie oder auch auf das Misstrauen gegen „fremdes“ Recht und entsprechende „nationale Gefühle“ zurückzuführen ist, sondern mehr auf mangelnden Kenntnissen der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung beruhte. Die jüngere Generation von Richtern und Anwälten scheint inzwischen mit dieser Materie vertraut zu sein. Dies erklärt nicht nur die häufigere Bezugnahme auf die EMRK in Gerichtsentscheidungen, sondern auch die Zunahme der „griechischen“ Individualbeschwerden beim EGMR.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 16 Offene Staatlichkeit: Griechenland › IV. Konzeptionen der europäisch integrierten nationalen Verfassung
IV. Konzeptionen der europäisch integrierten nationalen Verfassung
59
Die griechische Verfassungslehre hat sich mit der Frage von verfassungsrechtlichen Konzeptionen der europäisch integrierten nationalen Verfassung relativ wenig befasst. Sie verfügt auch über keine in diese Richtung gehenden Erfahrungen aus der Praxis, da Griechenland in seiner Geschichte nie ein föderaler Staat oder Mitglied eines Staatenbundes gewesen ist. Dennoch wurden die Grenzen, die der Gewalt des Bundesstaates gegenüber derjenigen der Gliedstaaten gesetzt werden, von der Lehre als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Einschränkung der originären Gewalt in Erwägung gezogen, die zwangsläufig durch die Zuerkennung bzw. die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft entsteht[115] und die die Bedeutung der nationalen Verfassungen relativiert.
60
Infolge der Diskussionen über die Zukunft Europas und den europäischen Verfassungsvertrag musste sich die Verfassungslehre in Griechenland, wie in den anderen Mitgliedstaaten auch, mit der Verfassungsentwicklung der Union und mit den Hindernissen auseinandersetzen, die seitens der verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten für die Vollendung des in Aussicht gestellten neuen europäischen Gebildes bestehen.
61
Mit Blick auf den traditionellen Begriff der (formellen) Verfassung, wie dieser von der griechischen Lehre ausgearbeitet wurde (schriftliche Form und grundsätzlich[116] erhöhte Gesetzeskraft), wurde im Schrifttum bemerkt, dass ernste Zweifel daran bestehen, dass einige der Grundelemente