Handbuch Betreuungsrecht. Sybille M. Meier
dass das Gericht im Weigerungsfall den Betroffenen zwangsweise vorführen lassen kann (§ 278 Abs. 5–7 FamFG). Die Vorführung wird nicht durch den Gerichtsvollzieher bewerkstelligt, sondern durch die Betreuungsbehörde, bei der man einen sachgerechten Umgang mit psychisch kranken oder behinderten Menschen in einer so diffizilen Situation voraussetzt.[1]
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Muster Ermächtigungsbeschluss zum zwangsweisen Türöffnen
Beschluss
In dem Betreuungsverfahren betreffend
Agnes B., geboren am (. . .) in (. . .), wohnhaft (. . .),
Verfahrenspflegerin: Rechtsanwältin Suse W., (. . .)-Straße, (. . .)
wird der Termin zur Anhörung der Betroffenen anberaumt auf den
(. . .), (. . .) Uhr, Zimmer (. . .),
(. . .)-Straße, (. . .).
Das persönliche Erscheinen der Betroffenen wird angeordnet. Weiter wird die zwangsweise Vorführung der Betroffenen zum Termin durch die Betreuungsbehörde (. . .) angeordnet, § 278 Abs. 5 FamFG. Die Betreuungsbehörde wird ermächtigt, zur Vorführung Gewalt anzuwenden und sich der Vollzugshilfe der Polizei zu bedienen (§ 278 Abs. 6 FamFG). Der Betreuungsbehörde wird das Öffnen von Wohnungstüren, das Betreten und Durchsuchung der Wohnung gestattet (§ 278 Abs. 7 FamFG).
Dieser Beschluss gilt als Ladung zum Termin.
(Richterin am Amtsgericht)
Ausgefertigt
(Justizangestellte)
300
Ein derartiger Beschluss wird von dem Gericht allerdings erst dann erlassen, wenn sämtliche Ermittlungen zur Erforderlichkeit der Betreuerbestellung ausgeschöpft sind. Das folgt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft sein – z.B. durch Einwirkung über Dritte oder den Betreuer –, um den Betroffenen zu bewegen, an der Anhörung teilzunehmen.
Das Gericht konnte die Betreuungsbehörde nach früherer Rechtslage nicht ermächtigen, die Wohnung des Betroffenen gegen dessen Willen zu betreten oder zu öffnen.[2] Zum 1.1.2013 ist die Rechtsgrundlage dazu durch Ergänzung des § 278 FamFG erfolgt.
301
Die gerichtliche Vorführungsanordnung ist hinreichend bestimmt zu fassen und zu begründen. Die Vorführungsanordnung ist als eine verfahrensleitende Zwischenentscheidung zu qualifizieren. Trotz des mit der Vorführung verbundenen gravierenden Eingriffs besteht nach § 58 Abs. 1 FamFG und im Umkehrschluss zu § 284 Abs. 3 S. 2 FamFG keine Anfechtungsmöglichkeit. Nach § 58 Abs. 1 FamFG können nur Endentscheidungen mit der Beschwerde angefochten werden, wobei im Rahmen der Prüfung durch das Beschwerdegericht auch die zuvor ergangenen Zwischenentscheidungen einbezogen werden, § 58 Abs. 2 FamFG. Die Anordnung der Unterbringung zur Begutachtung kann allerdings nach § 284 Abs. 3 FamFG i.V.m. den §§ 567–572 ZPO mit der Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde binnen 2 Wochen angefochten werden.
302
Die Durchführung der Vorführung ist ggfs. ohne den Einsatz körperlichen Zwangs nicht denkbar. Der Beschluss wird daher zweckmäßigerweise eine Ermächtigung der Betreuungsbehörde zum Einsatz einfacher körperlicher Gewalt aussprechen, Die Mitarbeiter der Betreuungsbehörde sind jedoch nicht berechtigt, selbst körperliche Gewalt anzuwenden.
303
Rechtsgrundlage für die Anwendung von Gewalt und unmittelbaren Zwang (Anlegung von Handfesseln etc.) sind die landesrechtlichen Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Die Bundesländer haben entsprechende Regelungen in ihren Polizeigesetzen getroffen. Eine gerichtliche Entscheidung, die eine Befugnis zur Gewaltanwendung zugunsten der Betreuungsbehörde ausspricht, ist keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs ist in den jeweiligen Landesgesetzen regelhaft den Polizeibehörden vorbehalten (Landespolizeirecht). Die Polizeigesetze legen auch abschließend den zur Ausübung von Zwang berechtigten Personenkreis fest. Die Mitarbeiter von Betreuungsbehörden sind in den Polizei- und Verwaltungsvollstreckungsgesetzen der Länder nicht benannt.
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Die Ausübung unmittelbaren Zwangs ist in der Regel vielmehr insbesondere Hilfsbeamten zugewiesen, wie z.B. Mitarbeitern von Ordnungsbehörden, die insbes. für die öffentlich-rechtliche Unterbringung nach den jeweiligen Unterbringungsgesetzen der Länder (PsychKG, UBG) zuständig sind. Die Betreuungsbehörde wird also bei gegebener Notwendigkeit, Zwang auszuüben, die Polizeibehörden um Unterstützung im Rahmen der Vollzugshilfe angehen.[3] Die Vollzugshilfeersuchen sind grundsätzlich schriftlich zu stellen. Der Grund für das Ersuchen ist dazulegen unter Benennung der Rechtsgrundlage. Hieraus folgt: die Betreuungsbehörde ist gehalten, zunächst selbst einen Versuch zu unternehmen, die Vorführung ohne Gewaltanwendung zu bewerkstelligen.[4] Es ist anzuraten, der Polizeibehörde den richterlichen Beschluss vorzulegen.
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Die Vorführung zur Anhörung bedarf zwingend der vorherigen Androhung.[5] Sofern der Betreuungsbehörde nicht bereits im Beschluss die Befugnis zur Wohnungsöffnung und zum Betreten und Durchsuchen der Wohnung des Betroffenen erteilt wurde, kann diese selbst die Entscheidung seit 1.1.2013 nur bei Gefahr im Verzug treffen (§ 278 Abs. 7 FamFG). Die Gefahr im Verzug muss mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf Alltagserfahrung gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen nicht aus.[6]
Anmerkungen
BT-Drs. 11/4528, 173.
BayOblG Rpfleger 1999, 445; BtPrax 2001, 251; FamRZ 2002, 348; LG Frankfurt/Main BtPrax 1994, 216; FamRZ 1996, 375; a.A., die allerdings überholt sein dürfte: LG Berlin FamRZ 1996, 821; KG BtPrax 1996, 195; FamRZ 1997, 442.
Deinert/Walther S. 146.
Deinert/Walther S. 147.
BayObLG FamRZ 1997, 1568.
BVerfGE 103, 142 = NJW 2001, 1121 = NStZ 2001, 382 = Rpfleger 2001, 264.
B. Das gerichtliche Verfahren bis zur Bestellung eines Betreuers › IX. Die Anhörung des Betroffenen › 5. Rechtliches Gehör
5. Rechtliches Gehör
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Aus Art. 103 GG ergibt sich die Verpflichtung des Gerichts, seiner Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zum Nachteil des Betroffenen zu Grunde zu legen, zu denen er zuvor Gelegenheit hatte, sich zu äußern.
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Beispiel
Jürgen R., der Nachbar von Herbert G., ruft bei dem zuständigen Betreuungsrichter an und erzählt diesem, dass Herbert G. nahezu täglich mit anderen „Saufkumpanen“ erhebliche Mengen Alkohol zu sich nehme und manchmal als hilflose Person im Treppenhaus aufgefunden werde. Im Übrigen rieche es streng