Klausurenkurs im Arbeitsrecht II. Matthias Jacobs
können (vgl. außerdem Rn. 174 f.).
cc) Zulässigkeit mit Blick auf § 1a KSchG
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Möglicherweise ist die Gewährung einer Sozialplanabfindung an Arbeitnehmer, die nicht Klage erheben, aber mit Blick auf die am 1.1.2004 in Kraft getretene Vorschrift des § 1a I 1 KSchG sachlich gerechtfertigt. Die Regelung belegt, dass nach den Wertungen des Gesetzgebers die Verknüpfung eines individuellen Abfindungsanspruchs mit der Nichtwahrnehmung des Klagerechts nach § 4 S. 1 KSchG von der Rechtsordnung gebilligt wird. Es ist indes fraglich, ob die in dieser Vorschrift getroffene Wertung auch Auswirkungen auf die Gestaltungsmöglichkeiten in Sozialplänen hat.[16]
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Durch § 1a KSchG sollte eine „einfach zu handhabende, moderne und unbürokratische Alternative zum Kündigungsschutzprozess“ geschaffen werden.[17] Der Abfindungsanspruch, den § 1a KSchG vorsieht, entspricht seinem Charakter nach einer zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber individualvertraglich für die Hinnahme einer Kündigung vereinbarten Abfindung.
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Hinweis zur Bewertung:
Die Kenntnis der Gesetzesbegründung wird freilich nicht erwartet, wohl aber sollten die Bearbeiter den Sinn und Zweck dieser Norm herausarbeiten und mit ihm argumentieren.
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Anders als auf der Individualebene[18] steht eine Sozialplanabfindung aber nicht im Belieben des Arbeitgebers. Vielmehr begründet die Betriebsänderung einen Anspruch des Betriebsrats auf Abschluss eines Sozialplans, der notfalls vor der Einigungsstelle erzwungen werden kann.[19] Ferner geht ein Sozialplan, der für den Verlust der Arbeitsplätze Abfindungen vorsieht, von der Wirksamkeit der Kündigungen aus. Denn andernfalls fehlte es bereits an einem wirtschaftlichen Verlust, der im Rahmen des Sozialplans auszugleichen oder abzumildern wäre. Dagegen wird eine individualrechtliche Abfindung regelmäßig auch im Hinblick auf das Risiko des Arbeitgebers vereinbart, dass sich die Kündigung in einem Kündigungsschutzprozess als unwirksam erweisen könnte. Dieses Risiko soll durch die an die Hinnahme der Kündigung oder die einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses geknüpfte Abfindung beseitigt werden. Eine Sozialplanabfindung hat damit eine gänzlich andere Funktion als die Abfindung nach § 1a KSchG, so dass die dort getroffene Wertung des Gesetzgebers keinerlei Auswirkungen auf den zulässigen Inhalt eines Sozialplans haben kann.
dd) Zwischenergebnis
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Das Interesse des Arbeitgebers an Planungs- und Rechtssicherheit ist daher auch mit Blick auf § 1a KSchG kein sachlicher Grund zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen im Rahmen eines Sozialplans. Die Einschränkung auf nicht klagende Arbeitnehmer verstößt somit gegen das betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot aus § 75 I BetrVG und ist daher nach § 134 BGB unwirksam.[20]
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Hinweis zur Klausurtechnik:
Mit entsprechender Argumentation ist es freilich auch möglich, zum gegenteiligen Ergebnis zu gelangen. Da sich in diesem Fall keine Unterschiede zur Prüfung eines Anspruchs aus § 5 BV-O ergeben, ist es klausurtaktisch jedoch ratsam, sich der Meinung des BAG anzuschließen.
3. Verstoß gegen § 612a BGB
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Schließlich kommt in Betracht, dass der Ausschluss einer Sozialplanabfindung für den Fall der Erhebung einer Kündigungsschutzklage gegen das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB verstößt.[21]
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Hinweis zur Klausurtechnik:
Ein Hilfsgutachten ist auch an dieser Stelle nicht erforderlich, da der Verstoß gegen § 612a BGB logisch unabhängig von einem Verstoß gegen § 75 I BetrVG ist, beide Unwirksamkeitsgründe also nebeneinander vorliegen (s. ausführlich in Klausur 1, Rn. 94).
a) Anwendbarkeit
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Auch die Betriebsparteien haben das Maßregelungsverbot des § 612a BGB zu beachten,[22] wobei dahinstehen kann, ob § 612a BGB unmittelbar oder mittelbar über § 75 I BetrVG Anwendung findet.
b) Benachteiligung
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Zunächst muss demnach eine Benachteiligung vorliegen. Die Gewährung einer zusätzlichen Prämie für nicht klagende Arbeitnehmer scheint auf den ersten Blick nicht unter diesen Begriff zu fallen. Eine Benachteiligung setzt allerdings nicht notwendig voraus, dass sich die Situation des Arbeitnehmers gegenüber dem bisherigen Zustand verschlechtert. Das Maßregelungsverbot kann nach seinem Sinn und Zweck vielmehr auch verletzt sein, wenn dem Arbeitnehmer Vorteile vorenthalten werden, die der Arbeitgeber anderen Arbeitnehmern gewährt, weil sie ihre Rechte nicht ausgeübt haben.[23] Eine Benachteiligung i.S.d. § 612a BGB liegt mithin vor.
c) Verhältnis zwischen Rechtsausübung und Nachteil
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Fraglich ist sodann, ob die Einschränkung des Prämienanspruchs eine Benachteiligung darstellt, die deshalb erfolgt, „weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt.“ Der Wortlaut von § 612a BGB deutet darauf hin, dass möglicherweise nur solche Vereinbarungen erfasst werden, die der Rechtsausübung zeitlich nachfolgen.[24]
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Nach überwiegender Auffassung soll die zeitliche Reihenfolge jedoch aus teleologischen Gründen unerheblich sein. § 612a BGB soll demnach auch dann anwendbar sein, wenn die benachteiligende Maßnahme oder Vereinbarung zeitlich vor der Rechtsausübung liegt.[25] Das sei mit dem Wortlaut insofern vereinbar, als dieser nur Kausalität zwischen Ausübung und Nachteil verlange („weil [. . .] ausübt“ und nicht „ausgeübt hat“).
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Daraus folgt allerdings eine nicht unerhebliche Einschränkung der Vertragsfreiheit. Es sind schließlich durchaus Situationen vorstellbar, in denen ein Arbeitnehmer auf ihm zustehende Rechte gegen Zahlung einer Abfindung verzichten möchte (vgl. etwa § 1a KSchG). Vereinzelt wird die Anwendbarkeit von § 612a BGB daher auf Maßnahmen und Vereinbarungen begrenzt, die unverhältnismäßig und sozial inadäquat sind.[26] Teilweise wird die Anwendbarkeit von § 612a BGB aber auch gänzlich abgelehnt, wenn es um eine Vereinbarung geht, die der Rechtsausübung vorangegangen ist; solch eine Vereinbarung könne keine Benachteiligung i.S.d. § 612a BGB darstellen.[27]
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Für letztgenannte Auffassung spricht zum einen, dass der Gesetzgeber in den Materialien davon ausging, dass Benachteiligungen nur solche sind, die erfolgen, weil der Arbeitnehmer seine Rechte in zulässiger Weise „ausgeübt hat“.[28] Zum anderen – und das ist entscheidend – soll § 612a BGB vor Willensbeeinträchtigungen schützen, die darauf beruhen, dass der Arbeitnehmer vor unkalkulierbaren Reaktionen des Arbeitgebers zurückschreckt; der Rechtsausübung zeitlich vorhergehende Vereinbarungen sind aber nicht mit derartigen unkalkulierbaren Nachteilen verbunden, deren befürchteter Eintritt den Willensbildungsprozess des Arbeitnehmers beeinflussen könnte. Eine Unwirksamkeit der Beschränkung des Abfindungsanspruchs wegen Verstoßes gegen § 612a BGB scheidet somit aus.
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