Handbuch des Strafrechts. Robert Esser
Topos, zum anderen aber auch kein „Unterfall“ gerade eines der tradierten Kanones zu sein. Näher liegt vielmehr, darin ein Querschnittsargument zu sehen, das man als „Auslegungskriterium zweiter Stufe“ bezeichnen könnte: Es handelt sich um ein Hilfskriterium, dem gegenüber anderen Kriterien eine dienende Funktion zukommt. Diese besteht darin, dass durch die Bewertung konkreter bzw. den Vergleich unterschiedlicher Strafrahmen Aussagen
– | über das Verhältnis verschiedener Tatbestände zueinander, |
– | über historische Entwicklungen oder |
– | über den Zweck einer Vorschrift |
getroffen werden können und damit eine systematische, historisch-genetische oder teleologische Auslegung besser begründet werden kann.
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Im o.g. Sinne einer „Auslegung“ als Erschließung von Kontexten, um das streitige Tatbestandsmerkmal besser bestimmen zu können,[194] bei welcher die verschiedenen Kanones für die unterschiedlichen Kontexte (etwa den Kontext anderer Normen, den Kontext der Gesetzesbegründung etc.) stehen, stellt der Blick auf den Strafrahmen einen Weg dar,[195] diese Kontexte zu erschließen bzw. zu verarbeiten. Durch den Blick auf den vom Gesetzgeber jeweils festgelegten Strafrahmen lassen sich die durch die Kanones ins Auge gefassten Kontexte oftmals fruchtbar machen. Dabei gibt der Strafrahmen keine Ergebnisse, sondern immer nur Tendenzen vor. Eine Begriffsbedeutung im Tatbestand kann nie „eins zu eins“ mit einem Zahlenwert bei der Rechtsfolge korrespondieren; aber Zahlenangaben, wie die Strafrahmen sie darstellen, bieten sich als „Erschließungsinstrumente“ aus drei Gründen besonders gut an:
– | Zahlenangaben gehören im Bereich der natürlichen Sprache zu den präzisesten und damit auch „am stärksten bestimmten“ Angaben.[196] |
– | Zahlenangaben sind relativ einfach und klar vergleichbar. |
– | Zahlenangaben lassen – und zwar immer noch mit der erforderlichen Klarheit – theoretisch vielfältige Abstufungsmöglichkeiten zu. |
4. Inhaltliche Berechtigung einer strafrahmenorientierten Auslegung
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Die Strafrahmenorientierung ist also „technisch“ gut geeignet, bei der Auslegung Kontexte zu erschließen. Für die materiell-inhaltliche Berechtigung der Berücksichtigung des Strafrahmens bei der Auslegung kann anhand der bisherigen Beispiele davon ausgegangen werden, dass zumeist ein – absolut oder bei maßgeblichen Vergleichen – hoher Strafrahmen als Argument für eine restriktivere Auslegung herangezogen wird, während eine Strafrahmenabsenkung oder ein vergleichsweise geringerer Rahmen grundsätzlich eine weitere Auslegung zumindest zulassen sollen, wenn nicht – wie oben im Beispiel des § 160 StGB – davon auszugehen ist, dass der niedrigere Strafrahmen die Ausnahme bilden soll.
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Auf den ersten Blick sind hierbei zwei Dinge nicht selbstverständlich: Zum einen, dass der Strafrahmen als Bestandteil der Rechtsfolgenanordnung für die Tatbestandsauslegung überhaupt von Bedeutung ist; zum anderen, dass mit zunehmender Höhe des Strafrahmens tendenziell eine restriktive Auslegung zu bevorzugen und damit gerade bei schwerwiegenden Rechtsgutsgefahren der Anwendungsbereich der vermeintlich schützenden Strafnormen beschränkt sein soll. Hinzu kommt als vorstellbarer Einwand, die Strafrahmen des StGB seien für eine solche Strafrahmenorientierung untereinander zu wenig konsistent. Diese Einwände lassen sich m.E. jedoch zumindest teilweise ausräumen.
a) Die Strafrahmenberücksichtigung als Folge der allgemeinen Teleologie rechtlicher Regelungen
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Die Berechtigung, ja geradezu das Erfordernis, trotz der vermeintlichen Bindung an ein Konditionalprogramm aus Tatbestand und Rechtsfolge letztere nicht völlig aus dem Blick zu verlieren, ergibt sich bereits aus der Teleologie jeder rechtlichen Regelung: Denn diese erfahren ihre Zweckhaftigkeit gerade aus den von ihnen „gesollten“ Folgen. Freund formuliert hier zutreffend: „Der (. . .) wirklichkeitsgestaltende und nicht bloß -erkennende Charakter des Rechts bedingt dessen teleologische Struktur, dessen Ausgerichtetsein auf ein wie auch immer zu bestimmendes Ziel hin (. . .). Die Legitimation einer abstrakten Norm (. . .) muss deshalb im Grunde immer von den in Frage stehenden (expliziten und impliziten) ‚Rechts‘-Folgen her gesehen werden (. . .)“[197].
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Auf die gesetzlichen Strafrahmen[198] übertragen, entspricht ein solcher nur insoweit der „gesollten“ Ordnung, als er für den konkreten Sachverhalt als zweckhaft denkbare Reaktion vorstellbar ist. Es muss also ein Rahmen zur Verfügung stehen, der nach Möglichkeit alle, aber auch nur solche Strafen ermöglicht, die für ein bestimmtes Verhalten schuldangemessen und präventiv geeignet sind.[199] Anderenfalls wird das allgemeine Gesetzesziel, tatbestandsadäquate Rechtsfolgen zu setzen, verfehlt. Insoweit ist eine Rückwirkung des Rahmens der Rechtsfolge auf die Auslegung der Tatbestandsmerkmale nicht generell ausgeschlossen.
b) Das Verhältnis von Sanktionshöhe und Weite der Auslegung
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Dass ein Ansteigen des Strafrahmens als Argument regelmäßig für eine vergleichsweise restriktivere Auslegung streitet, lässt sich auf strafrechtstheoretischer Ebene begründen, wenn man unter den beiden Kardinalfragen[200] aus der Diskussion um die Grenzen staatlichen Strafens, ob ein Verhalten überhaupt „missbilligt“ werden kann und ob bejahendenfalls darauf wirklich mit Strafe reagiert werden muss, den Blick auf die zweite lenkt:[201] Geht man nämlich davon aus, dass mit der Strafe als „letztem und gewichtigstem Mittel zur Disqualifikation von Fehlverhaltensweisen“ auch ein „Ausdruck eines gewichtigen (mit einem Rechtseingriff verbundenen) sozialethischen Vorwurfs“ einhergeht,[202] so muss sie auf solche Verhaltensweisen beschränkt bleiben, die schon „selbst“, als solche „in besonderem Maße die Anforderungen des Gemeinschaftslebens“ verletzen und denen mit Blick auf das beeinträchtigte Rechtsgut eine „qualifizierte Entscheidung zugrunde liegt, die die Anforderungen des Gutes negiert“.[203] Dieser Gedanke lässt sich aber auch in quantitativen Schritten formulieren: Ein jeweils erhöhter Strafrahmen ist Ausdruck einer umso größeren sozialethischen Disqualifikation von Verhaltensweisen. Damit diese gerechtfertigt ist, muss der jeweilige Tatbestand auf Verhaltensweisen beschränkt bleiben, die in noch höherem „Maße die Anforderungen des Gemeinschaftslebens“ verletzen. Das führt – nicht stets, aber doch – tendenziell zum Erfordernis einer restriktiven Auslegung.
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Ein ähnlicher Gedanke kann aber von der Verfassung her formuliert werden: Mit Blick auf das fundamentale Gebot der Verhältnismäßigkeit besteht die Gefahr eines unverhältnismäßigen Eingriffs umso eher, je höher auf der einen Seite die Strafe und je weniger schwerwiegend auf der anderen Seite das geahndete Verhalten ist.[204] Führt nun der höhere Strafrahmen tendenziell zu einer Verschärfung des Eingriffs, kann dem durch eine gleichzeitige Anhebung der tatbestandlichen Anforderungen entgegengewirkt werden. Auf einfachgesetzlicher Ebene wird das durch die Rechtsprechung des BGH aufgegriffen, in der (im Zusammenhang mit der Rechtsbeugung[205]) ein unerträgliches Missverhältnis der Strafe zu der abgeurteilten Handlung für möglich gehalten wird, wenn die Interpretation einer Strafnorm zum Nachteil des Beschuldigten offensichtlich die äußersten Grenzen hinnehmbarer Rechtsanwendung berührt, jedoch gleichzeitig „eine im vorgesehenen Strafrahmen besonders schwerwiegende Rechtsfolge“ verhängt wird. Konkrete Strafhöhe und Weite der Auslegung werden also als Größen gesehen, die zu einem unzulässigen Missverhältnis führen können