Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
priori zu explizieren und festzuschreiben dürfte gar nicht möglich sein. Ein solches System von Verhaltensnormen wäre außerdem so kompliziert, dass es für den Bürger nicht mehr nachvollziehbar wäre und deshalb auch nicht handlungsleitend wirken könnte.[158] Dies dürfte durchaus in einem Spannungsverhältnis zu Art. 103 Abs. 2 GG stehen; anschaulich spricht Jäger in einem anderen Zusammenhang von „Unterbestimmtheit durch Überbestimmtheit“.[159]
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Des Weiteren regt Frisch an, eine neue eigenständige Systemkategorie zu schaffen, in der thematisiert wird, ob durch das Täterverhalten das Recht überhaupt in Frage gestellt wurde.[160] Damit soll geklärt werden, ob bzw. inwieweit es erforderlich ist, auf die entsprechende Tat mit Strafe zu reagieren.[161] Als Beispiel für eine im Rahmen dieser Kategorie zu behandelnde Fragestellung nennt Frisch den freiwilligen Rücktritt vom Versuch.[162]
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Auch dieser Vorschlag erscheint jedoch nicht unproblematisch. Zwar ist es reizvoll, verschiedene bislang verstreut und nicht immer systematisch überzeugend eingeordnete Fallgestaltungen wie den freiwilligen Rücktritt vom Versuch in einer neuen, auf einen einheitlichen Grundgedanken zurückzuführenden Systemkategorie zu behandeln. Allerdings könnte mit der Schaffung einer solchen Großkategorie leicht ein Verlust an Detailschärfe und damit eine Zunahme von Unbestimmtheit einhergehen.
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Frischs Vorschlag ähnelt in Manchem der Prüfkategorie der Strafwürdigkeit oder auch der „Sozialschädlichkeit“, der im überkommenen sowjetischen Aufbau (s.o. Rn. 17) eine beträchtliche Bedeutung zukam. Man wird allerdings fragen dürfen, ob eine so interpretationsoffene und damit missbrauchsanfällige Kategorie im Straftatsystem eines rechtsstaatlichen Strafrechts einen Platz finden sollte.[163] Auf jeden Fall wäre es erforderlich, innerhalb der neuen Systemkategorie Untergruppen zu bilden, welche die jeweiligen Fragestellungen differenziert behandeln. Damit wird fraglich, was gegenüber dem herkömmlichen Aufbau über eine Umgruppierung der einschlägigen Fallgruppen und ihre Einordnung unter eine einheitliche Leitidee hinaus gewonnen wäre.
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Alles in allem sprechen die besseren Argumente dafür, das Standardmodell der h.M. – Verbrechen als tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhaft begangene Handlung – beizubehalten und das Straftatsystem an den auch bisher akzeptierten Kategorien auszurichten. Natürlich kann es über die genaue Verortung des einen oder anderen Problems mit guten Gründen unterschiedliche Meinungen geben.[164] Es handelt sich dabei aber um Verschiebungen, die nach einem Bild Ulrich Webers mit dem Umherrücken von Möbeln in einem Wohnzimmer vergleichbar sind und nicht zu tiefschürfenden Grundlagenauseinandersetzungen Anlass geben sollten.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht › G. „Normativ“ und „Normativismus“ – Kritik zweier Modevokabeln
G. „Normativ“ und „Normativismus“ – Kritik zweier Modevokabeln
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Als Gegenbegriff zu „Naturalismus“ wird in der Literatur häufig der „Normativismus“ genannt. Die Konzepte „Normativismus“ und „normativ“ sind allerdings womöglich noch unbestimmter als der Begriff „Naturalismus“ und werden in einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet (siehe unten Rn. 85 ff.). Puppe spricht zu Recht von einem „Modewort“[165]; andere Autoren von einer „der am meisten missbrauchten Vokabeln der Rechtsprache“.[166]
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Aus der analytischen Philosophie und der auf ihr aufbauenden Wissenschaftstheorie stammt die Unterscheidung zwischen analytischem, deskriptivem und normativem Sprachgebrauch:
„Bei einem logisch – begriffsanalytischen Vorgehen fragen wir nach der Bedeutung einzelner Begriffe, dem Sinn von Sätzen oder Äußerungen, ihrer logischen Struktur, ihren logischen Zusammenhängen. Die Behauptungen, die wir dabei aufstellen, sind weder wahr noch falsch – jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es deskriptive Behauptungen sind, die empirisch geprüft werden können. Bei dieser zweiten Betrachtungsweise suchen wir eine Antwort auf die Fragen: was ist der Fall? Und weiter, über eine bloße Beschreibung hinaus: warum, unter welchen empirisch feststellbaren Bedingungen ist etwas der Fall, wird etwas der Fall sein? Wir sind also an Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen interessiert. Schließlich geht es in einer normativ – praktischen Betrachtungsweise um die Beantwortung von Fragen nach einer (möglichst) richtigen Entscheidung – was soll man tun? – um deren Begründung/Rechtfertigung oder um die Bewertung einzelner Handlungen, Aktivitäten oder sonstiger Zustände.“[167]
I. Bedeutungsvarianten von „normativ“
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In der Rechtswissenschaft findet sich eine Vielzahl von Verwendungsformen der Konzepte „normativ“ bzw. „Normativismus“, die teilweise an den philosophischen Sprachgebrauch anschließen, teilweise aber auch davon abweichen und häufig nicht auseinandergehalten werden. Grosso modo lassen sich folgende Verwendungsweisen unterscheiden:
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In seiner Kernbedeutung meint „normativ“, dem in Rn. 84 skizzierten philosophischen Sprachgebrauch folgend, „wertend“ oder „bewertend“. Er bezieht sich auf eine bestimmte Kategorie von Aussagen, etwa Sätze der Art „Dieses Bild ist schön“ oder „Dieser Mensch ist gut“. Zur besagten Kernbedeutung von „normativen Ausdrücken“ gehören aber auch Forderungen und Imperative wie „A soll x tun!“ oder „A, tue x!“.[168] Wertende und fordernde bzw. befehlende Aussagen hängen miteinander zusammen, jedoch ohne dass die Logik dieser Art von normativen Aussagen als vollständig geklärt gelten könnte. Zuständige philosophische Fachdisziplin ist die Metaethik.[169]
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Nach einer zweiten Verwendungsweise ist jeder Begriff „normativ“, der in einer Norm, zum Beispiel einer gesetzlichen Regelung, vorkommt. So wäre etwa der Begriff „Sache“ ein normativer Begriff, da er u.a. in den §§ 242, 303 StGB verwendet wird. Legt man diesen Sprachgebrauch zu Grunde, so kann grundsätzlich jedem Wort der Sprache durch seine Verwendung in einem Gesetz normativer Charakter zukommen.
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Mit „normativ“ kann aber auch gemeint sein, dass Werte oder Normen formuliert oder „gesetzt“ werden. Gebraucht man den Begriff so, so bezieht er sich auf Tätigkeiten, eventuell auch auf Personen oder Einrichtungen, die diese Tätigkeit durchführen. So kann etwa ein Individuum (etwa der Monarch), aber auch ein Parlament „normativ“ tätig sein, indem es Rechtsnormen festlegt. Damit verwandt ist die Redeweise von der „normativen Kraft des Faktischen“.[170]
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In einer vierten Verwendungsweise meint „normativ“, dass sich ein Ausdruck auf Normen bezieht. In diesem Sinn ist der Begriff „fremd“ ein normativer Begriff, weil er sich auf die sachenrechtliche Eigentumsordnung bezieht.[171] Damit verwandt ist die Vorstellung, die Rechtswissenschaft insgesamt sei eine normative Disziplin. Damit soll sie sich von den empirischen Fächern, also etwa der Physik, der Chemie oder der empirischen Soziologie, unterscheiden.[172].
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Eine fünfte Verwendungsweise des Konzepts „normativ“ findet sich