Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 1. Reinhart Maurach
(2) Der BGH verzichtete zunächst auf das Erfordernis der körperlichen Kraftentfaltung und sah damit die Betäubung durch List als Gewalt an (BGH 1, 145[21]); anschließend verzichtete er auch noch auf die Einwirkung auf den Körper und stellte nur noch auf die Zwangswirkung ab (BGH 8, 103 zum Massen- oder Generalstreik). Später wurde diese radikale Erweiterung zurückgenommen; in die Gewalt wurden aber doch folgende Fälle einbezogen: Verhinderung des Überholens (BGH 18, 389), Erzwingung der Fahrbahnfreigabe durch dichtes Auffahren (BGH 19, 263: „körperlicher Zwang“ durch Herbeiführung von Nervosität als Einwirkung auf das Nervensystem; eingehend auch OLG Köln NZV 92, 371), Verhinderung des Straßenbahnbetriebes durch Sitzen auf der Fahrbahn (BGH 23, 54: unwiderstehlicher Zwang zwar nicht gegenüber den Verantwortlichen der Verkehrsbetriebe, wohl aber gegenüber den Straßenbahnführern auf psychischem Wege), zu einem tödlichen Schock führendes Richten einer Pistole auf einen anderen (BGH 23, 126: Empfindung als körperlicher Zwang durch Herbeiführung starker Erregung und damit Beeinflussung der körperlichen Voraussetzungen der Freiheit der Willensentschließung; noch weitergehend BayObLG NJW 93, 211), Niederbrüllen eines Universitätsdozenten (NJW 81, 189: Empfindung als körperlicher Zwang, da das Opfer der Einwirkung entweder überhaupt nicht oder nur mit erheblicher Kraftentfaltung begegnen könnte[22]), die Verhinderung des Geschäftsbetriebs durch Verstecken der Ware (BGH JR 88, 75).
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Weitere Ausweitungen durch andere Gerichte: Unterbrechung der Wasser- oder Stromzufuhr zur Erzwingung der Räumung oder Mietzahlung (OLG Karlsruhe MDR 59, 233: „unmittelbare körperliche Einwirkung“, „Empfindung als körperlich“[23]); Nichtherauslassen eines verbotswidrig geparkten Pkw durch den Grundstückseigentümer (BayObLG NJW 63, 1261: „Empfindung als physischer Zwang“); Gegendemonstration mit Sprechchören (LG Frankfurt NStZ 83, 25: „Einsatz von Mitteln, der darauf gerichtet und geeignet ist, die Willensentschließung oder -betätigung des Opfers zwangsweise zu beeinflussen und auszuschließen“). Zu den besonderen Formen der Gewalt bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung s.u. § 18 Rn. 10 ff.
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(3) Mit dieser Ausweitung blieb die Rechtsprechung allerdings hinter noch weitergehenden Forderungen in der Literatur zurück. In Weiterführung von Ausführungen bei Schönke/Schröder und unter Hinweis auf die Inkonsequenz der Rechtsprechung entwickelte vor allem Knodel eine radikale Erweiterung des Gewaltbegriffs als „jedes Vorgehen, das bestimmt und geeignet ist, einen tatsächlich geleisteten oder als bevorstehend erwarteten Widerstand dadurch zu überwinden, daß dem Opfer ohne sein Einverständnis die Willensbildung oder -betätigung unmöglich gemacht oder die Freiheit der Willensentschließung durch gegenwärtige Zufügung empfindlicher Übel genommen wird“ (aaO 59). Knodel wollte damit – über die bisherige Rechtsprechung hinaus – folgende Fälle in die Nötigung miteinbeziehen: die Aussperrung, den Entzug körperlicher Hilfsmittel, ja den Entzug von zur Verwirklichung von Absichten des Opfers erforderlichen Mitteln und Werkzeugen überhaupt, die gegenwärtige Übelszufügung[24], den Zwang gegenüber, ja auch die Täuschung von Drittpersonen. Im Anschluss hieran verzichtete ein großer Teil der Lehre nunmehr explizit auf das Merkmal der körperlichen Einwirkung beim Opfer oder definierte die Gewalt im Wesentlichen als jeden Einsatz von Mitteln, der darauf gerichtet und geeignet ist, die Willensbildungs-, Willensentschließungs- oder Willensbetätigungsfreiheit des Opfers auszuschließen[25].
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(4) Gegen diese Modernisierung des Gewaltbegriffs bildete sich seit Mitte der sechziger Jahre eine zunehmende Restaurationsbewegung. Teils wurde versucht, den modernen Gewaltbegriff mit weiteren Ausweitungen ad absurdum zu führen (Koffka JR 64, 397), teils eine Rückkehr zum „klassischen“ Gewaltbegriff (was ist das?), teils ein „mittlerer Kurs“ gefordert, dessen Kriterien jedoch offen blieben (Geilen aaO 465). Krey/Neidhardt plädierten für eine körperliche Zwangswirkung mit „normativer Relativierung“[26]. Wenig einleuchtend war auch das Argument, bei dem Zwang zu einem Verhalten durch eine abgeschlossene Veränderung der Umwelt handle das Opfer wie bei der Täuschung seinem Willen gemäß[27]; denn das tut derjenige, der nicht sinnlos an seinen Fesseln rüttelt, auch (Jakobs FS Peters 77). Kaum befriedigen konnten auch die vielfältigen Versuche, die Gewalt auf Körperverletzungen oder Körpergefährdungen zu beschränken[28]. Ebenso erscheint es wenig sinnvoll, den Gewaltbegriff durch eine Hereinnahme der Rechtswidrigkeit einzuschränken[29]. Vollends irritierend waren Rundumschläge gegen den engen Gewaltbegriff als Unterdrückung der körperlich arbeitenden unteren Klassen und Schichten und zugleich gegen den weiten Gewaltbegriff als sonstige politische Unterdrückung[30]. Die Ablehnung der Gewalt bei Verkehrsblockaden ist nicht über die Untergerichte hinausgelangt[31].
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BVerfGE 92, 1 (1995) hat Sitzblockaden von Verkehrswegen als Zwangswirkungen angesehen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischem Einfluss beruhen, und die Bejahung von Gewalt als verbotene Analogie bezeichnet[32].
Dieses unklare und gegen die Gleichbehandlung verstoßende Urteil hat erhebliche Unsicherheit in der Rechtsprechung hervorgerufen. BGH 41, 182 hat die Blockade mittels der durch eine Sitzblockade angehaltenen Fahrzeuge als Gewalt angesehen (sog. „2. Reihe-Urteil“)[33]. Gewalt wurde ferner bejaht bei: länger dauerndem dichtem Auffahren (OLG Karlsruhe NStZ-RR 98, 58), dem längeren Verhindern des Überholens durch Linksfahren (OLG Düsseldorf StV 01, 350)[34], dem Zwang des nachfolgenden Autofahrers zur Reduzierung der Geschwindigkeit auf 42 km/h durch Langsamerfahren (BayObLG NJW 02, 628), Befestigen von Stahlkörpern auf Eisenbahngleisen[35], Straßenblockade mit Fahrzeugen (BGH NJW 95, 2862; OLG Karlsruhe NJW 96, 1551) oder durch Hunderte von Menschen (BGH NStZ 95, 593[36]), dem Sichlegen auf die Motorhaube eines Pkw (BGH StV 02, 360).
Das BVerfG hat das Sichanketten in einer Einfahrt und die Blockade einer Autobahn mittels Fahrzeugen als „Errichtung einer physischen Barriere mittels körperlicher Kraftentfaltung“[37] und das dichte Auffahren auf den Vordermann (NStZ 07, 397) als Gewalt angesehen.
Dagegen wurde Gewalt verneint bei dem verkehrswidrigen Gehen auf der Fahrbahn zur Behinderung von Autofahrern (BGH 41, 420), dem Verhindern des Passierens mit einem Einkaufswagen[38], dem andauernden Anhupen eines verkehrsbedingt haltenden Verkehrsteilnehmers (OLG Düsseldorf NJW 96, 2245), der Blockade einer Internetseite (OLG Frankfurt a.M. StV 07, 244).
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Gewalt ist danach die körperliche oder mit Hilfsmitteln erzielte Kraftentfaltung, die sich als physisch vermittelter Zwang zur Überwindung eines tatsächlichen oder erwarteten Widerstands auswirkt[39]. Wichtiger als eine Definition erscheint es, die Strukturen des Zwanges aufzudecken und in diesem Raster eine sinnvolle Abgrenzung der Gewalt zu suchen. Nicht alle Nötigungsmittel sind bei allen drei Nötigungsarten (s.o. Rn. 8) möglich (Schroeder FS Gössel 416 ff.). Nach der Einwirkungsart steht neben der technischen Unmöglichmachung (vis absoluta) die Veranlassung, von selbst das erstrebte Verhalten vorzunehmen (vis compulsiva). Die vis absoluta kann nur zu einer Duldung, die vis compulsiva auch zu einer Handlung oder zu einer Unterlassung zwingen (s.o. Rn. 8). Die Einwirkungsart bestimmt zugleich die Art des Ausschlusses der Handlungsfreiheit: die vis absoluta richtet sich gegen die Willensbildungsfähigkeit und die Willensbetätigungsfreiheit, die vis compulsiva gegen die Willensbildungsfreiheit (s.o. Rn. 6).
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Innerhalb des absoluten Zwangs können Einwirkungen auf die Person und auf die Umwelt unterschieden werden. Einwirkungen auf die Umwelt mit Zwangswirkung sind möglich als Bereitung von Hindernissen oder Zerstörung verhaltensnotwendiger