Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
Gerichtshofs für Menschenrechte Gesetze, die darauf zielen, die Wirkungen gerichtlicher Entscheidungen zu beschränken, gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen, sofern sie nicht durch „zwingende Gründe des allgemeinen Interesses“ gedeckt sind.[182] Aus diesem Grund bestimmt der Conseil constitutionnel, ohne die validation législative insgesamt abzulehnen, Voraussetzungen, unter denen sie zulässig ist, und fordert wie auch der Conseil d’État und die Cour de cassation, dass sie durch Gründe des allgemeinen Interesses gerechtfertigt ist.[183] Dabei erscheint der Rückgriff auf bestätigende Gesetze äußerst heikel und wird angesichts der Tatsache, dass das französische Recht eine Staatshaftung für eine konventionswidrige Bestätigung kennt,[184] wohl mehr und mehr eingeschränkt werden.[185]
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V. Schlussbemerkungen: Das Recht auf eine gute Verwaltung
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Die „gute Verwaltung“ ist ein mehrdeutiger Begriff, „ein tentakelartiges Konzept“[186], das keine genaue Bedeutung hat und dessen Anwendungserfolg vor allem aus der Vorstellung resultiert, es könne alle Missstände, die der Verwaltung und ihrer Funktionsweise traditionell anhaften, beseitigen. Das „Recht auf eine gute Verwaltung“, das begrifflich dem auf „good governance“ vorgezogen wird, dessen Inhalt zweifelsohne noch schwieriger zu fassen ist, ist nach der Rechtsprechung[187] in Art. 41 GRCh verankert.[188] Zusammen mit Art. 42 (Recht auf Zugang zu Dokumenten) und Art. 43 GRCh (Bürgerbeauftragter) begründet Art. 41 GRCh einen Schutzmechanismus des Bürgers gegenüber der Verwaltung, der durchaus an die Grundsätze in Art. 15 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 erinnert.[189]
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Unter dem Begriff der „guten Verwaltung“ fasst die Charta verschiedene Rechte zusammen. Neben einem allgemeinen Prinzip in Analogie zu den Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK kennt sie drei Verfahrensgrundsätze – das Recht auf eine Anhörung, das Recht auf Zugang zu den Akten und die Begründungspflicht – und das Prinzip der Haftung der Verwaltung für die von ihr verursachten Schäden. Lässt man den speziell auf die Europäische Union zugeschnittenen vierten Punkt außer Acht (Sprachen der Verträge), fügt das europäische Konzept eines Rechts auf gute Verwaltung den dem französischen Recht bereits bekannten Rechten kein weiteres hinzu, sondern bleibt vielmehr hinter diesen zurück. Die auch im französischen Recht anerkannten Verfahrensprinzipien sind Ausdruck der bereits beschriebenen Tendenz zur Verrechtlichung des Verwaltungsverfahrens. Wenn es ferner eine der Neuerungen des Art. 41 GRCh ist, dass er keine Bürgerrechte, sondern Jedermannrechte garantiert, die auch für Ausländer gelten, die ihren Wohnsitz nicht im entsprechenden Land haben oder sich sogar illegal dort aufhalten, ist darauf hinzuweisen, dass auch das französische Konzept, das dem „administré“ gegenüber dem „citoyen“ den Vorzug gibt und damit das Unterordnungsverhältnis bekräftigt, denjenigen Rechte zuerkennt, die streng genommen keine Bürger sind. Ferner enthält Art. 41 GRCh keine Gewährleistung eines Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber Verwaltungsmaßnahmen.
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Indem die „gute Verwaltung“ auf ein Verwaltungshandeln verweist, das seiner Aufgabe, der Befriedigung allgemeiner Interessen, gerecht wird, trägt das „Recht auf eine gute Verwaltung“ dazu bei, demokratische Prinzipien in die Verwaltung einzuführen. Dies führt dazu, dass der administré nicht mehr einfach der Befehlsgewalt der Verwaltung unterworfen ist, sondern über seine Stellung als potentieller Kläger hinaus zu einer Art „Gläubiger“ des Verwaltungshandelns und sogar zu einem Partner der Verwaltung wird.
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Als „lebendiges und beständiges Recht“[190] ist das Verwaltungsrecht gegenwärtig nicht zum ersten Mal Veränderungen ausgesetzt, die das Wort „Krise“, heute auch gerne als Umbruch bezeichnet, wieder Eingang in die Theorie finden lassen und „die Schwierigkeiten des Positivismus bei der Anpassung der rechtlichen Begriffe an die Wirklichkeit“ aufzeigen.[191] Unabhängig davon, ob die „Krise“ oder der „Umbruch“ mit Inkohärenz[192] gleichzusetzen ist oder Ausdruck eines funktionellen und strukturellen Niedergangs eines juristischen Konzepts ist, zeugt sie jedenfalls nach der hier vertretenen Ansicht von einem Scheitern der Theorie, nach der die Entwicklung des Verwaltungsrechts eine Abfolge von Anpassungsmaßnahmen ist, die auf Rechtsfiguren aufbauen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklungsgeschichte die politische und administrative Realität einigermaßen gelungen abbildeten. In den Worten Léon Duguits ist „das Studium der Veränderungen des öffentlichen Rechts … ganz einfach das Studium des öffentlichen Rechts selbst“. Folgerichtig scheint die vereinfachende Berufung auf die „Krise“ oder den „Umbruch“ heute doch zugunsten der Frage nach den Grenzen der Anpassungsfähigkeit des Verwaltungsrechts zurückzuweichen.[193] An einem Beispiel, das eine der größten Herausforderungen betrifft, denen sich das Verwaltungsrecht heute stellen muss, lässt sich dies gut darstellen: der Entwicklung und Ausbreitung des Unionsrechts mit all seinen Implikationen für das französische Rechtssystem.[194] So haben die Auswirkungen auf den für das französische Verwaltungsrecht zentralen und grundlegenden Begriff des „service public“ zum Aufkommen des Begriffs „service public à la française“ beigetragen. Es ist bekannt, dass die Verträge den Ausdruck „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ verwenden und dadurch die dem französischen Konzept vom „service public“ zugrunde liegende Logik zugunsten ihrer eigenen verdrängen – überspitzt formuliert: Die Logik der Solidarität begegnet der Logik von Markt und Wettbewerb. Beide Begriffe sind nicht identisch,[195] schließen sich aber auch nicht gegenseitig aus. Zwar verlangen die unionsrechtlichen Vorschriften über den Wettbewerb eine Lockerung der in Frankreich traditionell starken Verbindung zwischen dem rechtlichen Status eines Unternehmens und der Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Die öffentliche Hand behält aber die Möglichkeit, gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aufzuerlegen. Gewiss löst dieser sektorielle Ansatz durch die Auferlegung einzelner gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen die Einheit des service public auf. Auch kann man den Verlust der Dichte dieses Begriffs bedauern. Dennoch negiert der Ansatz den service public nicht völlig: Die betroffenen Sektoren müssen nicht vollständig den Kräften des Marktes und den Interessen der einzelnen Akteure überlassen werden, da es nach wie vor dem Staat obliegt, die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und den Bestand der Universaldienste zu gewährleisten. Das Aufeinandertreffen des europäischen und des nationalen Konzepts führt mithin nicht zu einer Aufgabe des service public, sondern eher zurück zu seinem ursprünglichen Verständnis aus der Zeit des État-Gendarme.
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Bibliographie
Jacques Caillosse, La constitution imaginaire de l’administration, 2008. |
Georges Dupuis/Marie-José Guédon/Patrice Chrétien, Droit administratif, 112008. |
Charles Eisenmann, Cours de droit administratif, 2 Bde., 1982–1983. |
Pierre-Laurent Frier/Jacques Petit, Droit administratif, 52008. |
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