Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
Die gerichtlichen Rechtsbehelfe
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Die Breite der gerichtlichen Kontrolle resultiert aus der Vielfalt von Rechtsbehelfen, die bei den Verwaltungsgerichten eingelegt werden können; die Bedingungen ihrer Entstehung und Entwicklung haben es der Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglicht, ihre Kontrollmechanismen unter Berücksichtigung der Trennung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und aktiver Verwaltung auszugestalten. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes erfassen, zu der auch die Verfahrensdauer und die Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen gehören.
a) Die Vielfalt an Rechtsbehelfen
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Die Vielfalt an Rechtsbehelfen, die Ergebnis der Geschichte und des Bestrebens ist, mit der Kontrolle immer weiter in den Bereich des Verwaltungshandelns vorzudringen, hat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Klassifizierungsansätzen geführt. Der erste Ansatz, dessen Ausgangspunkt die Arbeiten von Léon Aucoc[149] sind und der von Edouard Laferrière[150] ausgearbeitet wurde, orientiert sich an den Entscheidungsbefugnissen des Richters und unterscheidet vier Gruppen: den contentieux de la pleine juridiction oder plein contentieux (Rechtsstreit mit umfassenden richterlichen Befugnissen), bei dem der Richter über die weitreichendsten Befugnisse verfügt – er kann eine Entscheidung aufheben, sie ändern oder auch eine Verurteilung zu einer Leistung aussprechen; den contentieux d’annulation (Annullierungs- oder Aufhebungsrechtsstreit), zu dem auch der recours pour excès de pouvoir und der recours en cassation (Revision) gehören und in dem der Richter lediglich die angegriffene Entscheidung aufheben oder den Antrag auf Aufhebung ablehnen kann; den contentieux de l’interprétation (Rechtsstreit über Auslegungsfragen); schließlich den contentieux de la répression (Rechtsstreit, in dem eine Strafe ausgesprochen wird), der zur Verurteilung desjenigen führen kann, der Verkehrswege beschädigt oder gestört, also eine contravention de grande voirie begangen hat. Da dieser Klassifizierungsansatz nicht zu Unrecht kritisiert wurde, gab es seit Beginn des 20. Jahrhunderts weitere Vorschläge. Insbesondere Léon Duguit[151] richtete seine Klassifizierung an der Natur des Klagebegehrens aus und unterschied folglich zwischen der juridiction subjective (Verfahren, die eine Verletzung subjektiver Rechte zum Gegenstand haben) und der juridiction objective (Verfahren, die eine Verletzung objektiven Rechts zum Gegenstand haben). Beide Ansätze, die sich in ihren Ergebnissen weitgehend decken, sind von einem gewissen theoretischen Interesse, für die Praxis wegen ihrer Relativität aber nur begrenzt nutzbar. Sie bieten aber immerhin ein Gerüst von pädagogischem Wert.[152] Im Zentrum der Klassifizierungen steht, wenn nicht sogar als Triebfeder,[153] das Gegenüber von recours pour excès de pouvoir einerseits und recours de plein contentieux andererseits.
aa) Anwendungsbereiche von recours pour excès de pouvoir und recours de plein contentieux
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Der auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage statthafte[154] recours pour excès de pouvoir ist auf die Aufhebung eines individuellen (acte individuel) oder abstrakt-generellen (acte réglementaire) Verwaltungsakts gerichtet. Als „Prozess, der einem Akt gemacht wird“, hat dieses objektive Rechtsschutzverfahren eine entscheidende Rolle dabei gespielt, die Verwaltung dem Recht zu unterwerfen, vor allem, weil die Gerichte im Zusammenhang mit der Zulässigkeitsvoraussetzung des Klageinteresses (intérêt à agir) eine extrem liberale Linie verfolgen. Auch der Klagegegenstand, der als „acte faisant grief“ (Verwaltungsakt mit jedenfalls potentiell beeinträchtigendem Charakter) bezeichnet wird, wird weit verstanden. Nicht nur, dass mit dem recours pour excès de pouvoir die Ermessensausübung der Verwaltung angegriffen werden kann: Auch hat der Einfluss des Europarechts dazu geführt, dass die im Falle von actes de gouvernement (Regierungsakte) und mesures d’ordre intérieur (verwaltungsinterne Maßnahmen) bestehenden rechtsfreien Räume eingeschränkt worden sind, auch wenn die eine oder andere gerichtliche Entscheidung dies noch nicht wahrhaben will.[155]
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Die actes de gouvernement, für die bislang noch keine allgemeine und theoretische Definition existiert, die über die Aussage hinausginge, dass sie einer bestimmten „Staatsraison“ (Raymond Odent) entsprechen,[156] werden von Verwaltungsorganen getroffen, unterliegen aber keiner gerichtlichen Kontrolle. Zu ihnen zählen heute Akte, die die Beziehungen zwischen Regierung und Parlament[157] oder der Regierung und einem ausländischen Staat oder einer internationalen Organisation[158] betreffen. Die Qualifikation eines Akts als acte de gouvernement kennt allerdings auch Grenzen. So kann die Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrags gerügt werden. Auch endet die gerichtliche Immunität, wenn der Akt als von Abkommen, Verträgen und diplomatischen Beziehungen abtrennbar angesehen wird.[159] Bei den mesures d’ordre intérieur handelt es sich um Entscheidungen mit generellem oder individuellem Charakter, die darauf gerichtet sind, dass die Verwaltung reibungslos funktioniert und sich Weisungen fügt, und vom Richter entsprechend qualifiziert werden. Sie sind gerichtlicher Kontrolle entzogen, weil es sich um „unbedeutende Angelegenheiten“ handelt. Unter dem Einfluss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist die Liste dieser Maßnahmen kürzer geworden, insbesondere in ihren eigentlichen Domänen, dem Schulwesen, der Armee und dem Strafvollzug. So werden heute die Schulordnungen sowie Sanktionen oder andere Maßnahmen gegenüber Angehörigen des Militärs oder Strafgefangenen als Maßnahmen mit jedenfalls potentiell beeinträchtigendem Charakter angesehen.[160]
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Potentiell beeinträchtigend sind aus Sicht der Rechtsprechung nur Maßnahmen, die eine Rechtsfolge herbeiführen und damit zu einer Änderung der Rechtslage führen, nicht hingegen rein unverbindliche Maßnahmen, die lediglich der Vorbereitung einer Entscheidung dienen, nur eine Stellungnahme beinhalten (wie Gutachten, Vorschläge oder Untersuchungen) oder lediglich eine frühere Entscheidung bestätigen. Auch Dokumente, in denen die Verwaltungsbehörden Auskunft über die Auslegung und Anwendung von Rechtsvorschriften geben oder lediglich auf eine Rechtsvorschrift hinweisen, sind verwaltungsinterner Natur. Es handelt sich um circulaires interprétatives (interpretierende Runderlasse), die sich von circulaires réglementaires (Runderlassen mit Regelungscharakter) unterscheiden. Letztere führen zu einer Änderung der Rechtslage – indem sie etwa die Ausübung eines Rechts bestimmten Bedingungen unterwerfen – und sind in der Regel nicht von einer Rechtsetzungsbefugnis der Verwaltung gedeckt. Diese klassische Unterscheidung, die sich am Gegenstand der Runderlasse orientiert, ist im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit des recours pour excès de pouvoir schwierig umzusetzen. Sie ist daher durch ein neues Gegensatzpaar abgelöst worden, das eher auf die Wirkungen der Runderlasse blickt und zwischen circulaires impératives (anordnende Runderlasse) und solchen ohne Anordnungscharakter unterscheidet.[161] Schließlich legt die Verwaltungsbehörde durch directives (Richtlinien) fest, wie sie das ihr eingeräumte Ermessen ausüben will. Die damit verbundene Aufstellung einer handlungsanleitenden „Doktrin“ ist Ausdruck der „Steuerungsbefugnis“ der Verwaltung.[162]
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Ähnlich wie bei der Aufhebung von Verwaltungsakten wird auch der Anwendungsbereich des recours de pleine juridiction, einer Klage, bei der die richterlichen Befugnisse auch andere Maßnahmen als die Aufhebung von Verwaltungsakten umfassen, immer weiter ausgedehnt. Er umfasst sowohl Streitigkeiten um die außervertragliche und vertragliche Haftung der Verwaltung, in denen der Richter darüber zu befinden hat, ob die Verwaltung zum Ersatz eines durch sie verursachten Schadens zu verurteilen ist, als auch sonstige vertragsrechtliche Streitigkeiten, die bei dieser Klageart dominieren. Ferner deckt er Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Steuerrecht, dem Wahlrecht, einsturzgefährdeten Gebäuden, überwachungsbedürftigen Anlagen oder auch dem Flüchtlingsrecht ab. Schließlich können hier nach Maßgabe besonderer gesetzlicher Bestimmungen und innerhalb ihrer Grenzen auch Sanktionen eingeordnet werden, die bestimmte unabhängige Verwaltungsbehörden wie der Conseil supérieur de l’audiovisuel (Hörfunk- und Fernsehrat) verhängen.