Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
und Annäherung von recours de pleine juridiction und recours pour excès de pouvoir
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Die Gegensätzlichkeit beider Klagearten bleibt angesichts zahlreicher spezifischer Regelungen betreffend Zulässigkeit und Verfahren Realität. So unterliegt etwa der recours pour excès de pouvoir seit 1864 keinem Anwaltszwang. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben aber zu einer Annäherung der beiden voneinander unabhängigen Klagearten geführt, zwischen denen der Kläger, der die Aufhebung einer Entscheidung über eine Zahlung begehrt, seit 1921 frei wählen kann.[163]
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So wird, erstens, die Verbindung zwischen recours pour excès de pouvoir und Verwaltungsakt in vielerlei Hinsicht gelockert. Zum einen ist schon sehr früh anerkannt worden, dass der recours pour excès de pouvoir gegen einen Akt statthaft ist, der von einem der pleine juridiction unterliegenden Gesamtvorgang abgetrennt werden kann (acte détachable). Ein Beispiel für einen dermaßen abtrennbaren Akt ist die Entscheidung, einen Vertrag abzuschließen, weil sie auf den Vertrag selbst keine unmittelbaren Auswirkungen hat.[164] Zum anderen, und das ist sicher außergewöhnlich, findet der recours pour excès de pouvoir Anwendung auf Arbeitsverträge zwischen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und ihren Bediensteten.[165] Ferner hat er zu einem neuen Aufhebungsrechtsbehelf geführt, der sich gegen Vertragsangebote gegenüber Dritten richtet.[166] Dieser Rechtsbehelf wird nicht ausdrücklich als recours pour excès de pouvoir bezeichnet – was mit Blick auf die Befugnisse des Richters, der den Vertrag aufheben, kündigen und ändern kann, durchaus folgerichtig ist – und bewegt sich im Bereich des plein contentieux. Und doch verbindet er zwei Dinge, die in den theoretischen Klassifizierungsansätzen streng voneinander getrennt sind: die Aufhebung der Entscheidung und den Vertrag.
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Zweitens überschreiten die Befugnisse, die dem Richter heute im Rahmen des recours pour excès de pouvoir bei der Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen zuerkannt werden, die bloße Aufhebung des Verwaltungsakts. Der Verwaltungsrichter kann kraft Gesetzes gegenüber der Verwaltung Anordnungen (injonctions) treffen und Zwangsgelder verhängen, auch um die Aufhebung eines von einem Vertrag abtrennbaren Akts durchzusetzen. Ferner behält sich die Rechtsprechung die Möglichkeit vor, die Regel auszusetzen, nach der bei Aufhebung eines Verwaltungsakts davon auszugehen ist, dass der Verwaltungsakt nie bestanden hat, um die zeitlichen Wirkungen der Aufhebungsentscheidung zu modifizieren.[167] Es handelt sich um eine Befugnis, die das Verwaltungshandeln erleichtert und Ähnlichkeiten mit der Befugnis aufweist, einen Rechtsakt zu ändern.
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Die geschilderte Entwicklung zeugt von der Annäherung von recours pour excès de pouvoir und recours de pleine juridiction.
b) Die Intensität der Kontrolle
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Der Richter ist entsprechend der allgemeinen Verfahrensregel, die Entscheidungen ultra petita verbietet, gehalten, nicht über die Anträge der Beteiligten hinauszugehen. In diesem Rahmen übt er eine Kontrolle aus, die zwei Gegebenheiten zum Ausgleich bringen muss: die Erfordernisse des Verwaltungshandelns und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, oder, um eine Formulierung aus der Entscheidung Blanco aufzugreifen, „die Bedürfnisse der Verwaltung und die Notwendigkeit, das Recht des Staates mit den privaten Rechten in Einklang zu bringen“.
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Im Rahmen sowohl des contentieux de pleine juridiction als auch des contentieux de l’excès de pouvoir hat dies zu einer Ausweitung der richterlichen Kontrolle geführt. So war das Prinzip der Haftung der öffentlichen Gewalt zwar Ende des 19. Jahrhunderts anerkannt, es galt aber als „weder generell noch absolut“. Dass die Haftung heute insoweit durchaus generell ist, als für jegliches Verwaltungshandeln gehaftet wird, ist ein Ergebnis der Verschärfung der gerichtlichen Kontrolle. Kein Bereich des Verwaltungshandelns steht heute noch außerhalb des Haftungsregimes. Ursprünglich auf dem Restitutionsgedanken basierend, hat sich dieses durch die Berücksichtigung des Solidaritätsgedankens weiterentwickelt. Dies zeigt sich einerseits in der richterrechtlichen Annahme einer verschuldensunabhängigen Haftung der öffentlichen Gewalt, die entweder auf das Prinzip der Gefährdungshaftung oder auf die Annahme einer Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bei der Erhebung öffentlicher Abgaben gestützt ist, andererseits in der Einrichtung von Entschädigungsfonds (etwa für Kriegsschäden oder die Opfer terroristischer Akte)[168] durch den Gesetzgeber. Diese Entwicklung hat zu dem durchaus kritikwürdigen Befund geführt, dass man heute eine versicherungsähnliche Haftung der öffentlichen Gewalt in Erwägung zieht,[169] für die vor allem das Vorsorgeprinzip verantwortlich ist. So verlangt der Richter in bestimmten Bereichen keine besondere Schwere der Pflichtwidrigkeit mehr, schränkt die Fälle, in denen es einer faute lourde (grobe Fahrlässigkeit) bedarf, zugunsten des bloßen Erfordernisses einer faute simple (einfache Fahrlässigkeit) ein und dehnt die Haftung für vermutetes Verschulden aus. Auch im vertraglichen Bereich hat die Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, die die Rechte der administrés gewährleisten und dennoch die „Erfordernisse des Verwaltungshandelns“ berücksichtigen. Ein Beispiel ist die théorie de l’imprévision (Lehre von der Geschäftsgrundlage).[170]
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Die Kontrolle der Verwaltung mittels des recours pour excès de pouvoir, eines Rechtsbehelfs, der traditionell als das bevorzugte Instrument zur Durchsetzung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gilt, fällt in denselben Zuständigkeitsbereich. Parallel zum breiten Zugang zu den Gerichten, den dieser recours objectif infolge seiner großzügig konzipierten Zulässigkeitsvoraussetzungen eröffnet, sowie zur Entwicklung der Kontrollmechanismen sind auch die einer Erörterung vor Gericht zugänglichen Klagegründe (cas d’ouverture) erweitert worden.
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Die Klagegründe beim recours pour excès de pouvoir, die sich auf die unterschiedlichen Aspekte der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts beziehen, können in zwei von der Rechtsprechung entwickelte Gruppen unterteilt werden: Gesichtspunkte der légalité externe (formelle Rechtmäßigkeit) und Gesichtspunkte der légalité interne (materielle Rechtmäßigkeit). Die erste Gruppe betrifft Fälle, in denen der Verwaltungsakt fehlerhaft ist, weil die Behörde unzuständig ist (incompétence) oder ein Form- und Verfahrensfehlern (vice de forme et de procédure) vorliegt. Zur zweiten Gruppe gehören Fälle, in denen es um die materiellen Voraussetzungen des Verwaltungshandelns geht, also Fehler bei Tatsachenfeststellung und Subsumtion (erreur des motifs de fait) und Fehler bei der Rechtsanwendung (erreur des motifs de droit), die unmittelbare Verletzung einer Rechtsvorschrift (violation directe de la règle de droit) und den Ermessensmissbrauch (détournement de pouvoir). Der Richter kann also mit anderen Worten über alle Formen von Rechtswidrigkeit befinden, mögen diese nun objektive Aspekte wie etwa die tatsächlichen und rechtlichen Gründe der Entscheidung oder subjektive Aspekte wie die mit ihr verfolgten Ziele betreffen. Letztere können im Zusammenhang mit dem Klagegrund des Ermessensmissbrauchs erörtert werden, der eine Überprüfung der inneren Absichten der Verwaltung auf ihre Integrität hin erlaubt. Wenn die Rechtsprechung Techniken entwickelt hat, die ihr eine Anpassung der Kontrolle an die Rechtslage, in der sich die Verwaltungsbehörde befindet, erlauben, bedeutet das nicht, dass sich die Kontrolle nicht mehr auf alle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen bezieht, wenn auch stets nur im Rahmen des klägerischen Antrags.[171]
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Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle ist beim recours pour excès de pouvoir abhängig vom Grad des der Verwaltung eingeräumten Ermessens. Das gilt vor allem für die Kontrolle der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen (motifs). Traditionell unterscheidet man zwischen contrôle normal (volle Kontrolle) und contrôle restraint