Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
eine gewisse Partizipation. Schließlich sind regelmäßige Evaluationen zwingend geboten. Die hier im Zusammenhang mit den unabhängigen Verwaltungsbehörden, deren Einrichtung dem Streben nach einer „démocratie administrative“ entspringt, konstatierten Verschiebungen gelten für die gesamte französische Verwaltung, in der das Thema einer „démocratie administrative“ erhebliche Fortschritte gemacht hat.
2. Die „démocratie administrative“
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Die „démocratie administrative“ hat unbestreitbar Fortschritte gemacht. Auch wenn diese noch nicht ausreichen, ist doch bereits eine Ablösung des Konzepts vom administré als Untertan (sujet) durch ein Konzept vom administré als Bürger (citoyen) im Gange. Diese Entwicklung, die sich seit den 1970er-Jahren beschleunigt hat, ist nicht das Ergebnis eines von vornherein im Einzelnen festgelegten Programms oder Plans, sondern resultiert aus einer Abfolge von Einzelmaßnahmen.[111] Diese tragen zu einer Erneuerung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und administrés bei und sind damit Teil einer neuen Legitimation der Verwaltung.
a) Eine transparentere und bürgernähere Verwaltung
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Ein spürbarer Wandel der Verwaltung ist nicht zu bestreiten. Zunächst ist festzustellen, dass die Entscheidungen näher am Bürger getroffen werden, was nicht zuletzt eine Folge der Dezentralisierungs- und Dekonzentrationspolitik ist. Sicherlich bleibt durch die räumliche Organisation der Verwaltung aus Sicht des Bürgers ein gewisses Maß an Komplexität bestehen. Es resultiert daraus, dass es in Frankreich nach wie vor noch – mindestens – vier Verwaltungsebenen und eine Vielzahl von Kommunen gibt, was durch die Entwicklung der gemeindlichen Zusammenarbeit bisher nur unzureichend bewältigt wird.[112] Neben die Bemühungen um eine verstärkte Öffnung und Nähe zu den administrés durch die Ausweitung von Befragungen und Abstimmungen tritt das Bestreben, bei der Regulierung der Wirtschaft die Rechte der Bürger zu berücksichtigen, ein Ziel, dem vor allem die Einrichtung und Stärkung der unabhängigen Verwaltungsbehörden dienen.[113] Damit soll zugleich die Transparenz der Verwaltung gefördert werden. Wenn das für die Verwaltung charakteristische Maß an Geheimhaltung damit auch nicht durch ein Glashaus ersetzt worden ist – was im Übrigen auch nicht wünschenswert wäre –, wurde doch ein entscheidender Schritt getan, um Transparenz und Vertraulichkeit der Verwaltung in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
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Seit dem Ende der 1970er-Jahre wurden mehrere Gesetze erlassen, die bestimmte Rechte der administrés begründet haben. Die bedeutendsten sollen nachfolgend genannt werden. Das Gesetz vom 17.7.1978 hat ein Recht auf Einsicht in Verwaltungsdokumente geschaffen.[114] Es wurde eine Commission d’accès aux documents administratifs (CADA – Kommission für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten) gegründet, die im Rahmen einer Politik der Verwaltungstransparenz die Umsetzung des Rechts auf Zugang zu Verwaltungsdokumenten erleichtern soll. Dieses Kollegialgremium kann angerufen werden, wenn der Zugang zu Verwaltungsdokumenten verweigert wird. Es lässt der zuständigen Behörde dann innerhalb eines Monats eine Stellungnahme zukommen, in der es sich zur Einsehbarkeit des betreffenden Dokuments äußert. Die Einholung dieser Stellungnahme ist eine zwingende Voraussetzung für die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens. Lange verfügte die CADA über keinerlei eigene Entscheidungsbefugnisse und war ein klassisches Beratungsorgan. Auch wenn sie die in den Behörden fest verankerte Tradition der Verschwiegenheit nicht komplett aufgebrochen hat, ist sie doch ein wirksames Instrument zur Einleitung eines Mentalitätswandels gewesen. Sie unterstützt die von einer Auskunftsverweigerung betroffenen Personen auf wirksame Weise, da die Verwaltung in 90% aller Fälle ihrer Auffassung folgt. In dieser Rolle als Vermittlerin zwischen der Verwaltung und den Bürgern als Ansprechpartnern hat die CADA unzweifelhaft eine moralische Autorität erworben, die seit kurzem durch eine echte Entscheidungsbefugnis gestärkt wird. Während sie früher auf Widerstände in der Verwaltung lediglich in ihren Jahresberichten hinweisen konnte, ist sie seit 2005 eine unabhängige Verwaltungsbehörde, die in einem kontradiktorischen Verfahren Geldstrafen verhängen kann.[115] In eine ähnliche Richtung weisen die Lockerung der Regelungen für den Zugang zu öffentlichen Archiven durch das Gesetz vom 3.1.1979 und die Schaffung eines gewissen Schutzes vor elektronischer Datenverarbeitung und -sicherung, der durch das Gesetz vom 6.1.1978 der Commission nationale de l'informatique et des libertés (CNIL – Nationale Kommission für Informationstechnologie und Freiheitsrechte und damit die nationale Datenschutzbehörde) übertragen worden ist. Schließlich verpflichtet das Gesetz vom 11.7.1979 die Verwaltungsbehörden zur Begründung belastender Individualentscheidungen, etwa von polizeilichen Maßnahmen, Sanktionen oder Aufhebungen rechtsbegründender Entscheidungen. Ausnahmen bestehen nur bei äußerster Dringlichkeit. Die Begründungspflicht erleichtert die Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandelns für die administrés und bewahrt die Verwaltung vor übereilten Handlungen. Aus diesen Gründen achten die Verwaltungsgerichte sehr sorgfältig auf ihre Einhaltung.
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Die genannten Gesetze, die von einer grundlegenden Reformbewegung getragen werden, werden durch das Gesetz vom 12.4.2000 über die Rechte der Bürger in ihren Beziehungen zur Verwaltung, das die Entwicklung hin zu einer „citoyennité administrative“ befördert, ergänzt und aufeinander abgestimmt.
b) Auf dem Weg zu einer „citoyennité administrative“?
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Die Idee der „citoyennité administrative“ ist, obwohl immer verbreiteter, schwer zu fassen. Beschreiben lässt sie sich allenfalls als eine neue Herangehensweise an das Verhältnis zwischen dem administré als citoyen und der öffentlichen Gewalt.
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Zunächst geht es darum, die den administrés gegenüber erbrachten Leistungen zu verbessern. Dies führt zu ganz unterschiedlichen Maßnahmen. Insbesondere soll der „physische“ Kontakt zu den Behörden erleichtert werden, indem der Zugang zu den services publics vereinfacht, die inflationäre Vermehrung der Normen bekämpft und die Verwaltungssprache und die Verfahren vereinfacht werden. Zu diesem Zweck werden Dokumente wie die auch als „charte Marianne“ bezeichnete charte pour l’accueil dans les services publics[116] erlassen, wird politisch auf eine Vereinfachung des Rechts und eine Reform bestimmter Arbeitsmethoden der Verwaltung hingewirkt, ein Comité d’orientation pour la simplification de langage administratif eingerichtet, das behördliche Formulare neu abfassen soll, und auf das Instrument der übertragenen Gesetzgebung zurückgegriffen, um eine Vereinfachung des Rechts und der Verwaltungsverfahren herbeizuführen. Neben diese Maßnahmen tritt das umfassende Vorhaben, neue Informations- und Kommunikationstechnologien in der Verwaltung einzuführen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Digitalisierung der Verfahren.
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Zudem ist der Einzelne präsenter, einerseits aus eigenem Antrieb – wie der Anstieg der Zahl verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten zeigt –[117], andererseits dadurch, dass er als echter Partner der Verwaltung auftritt. Denn neben einer Politik der Demokratisierung des öffentlichen Sektors und dem verstärkten Rückgriff auf die übertragene Erbringung von services publics ergänzt die vertragliche Kooperation die klassischeren Formen der Partizipation. Das Partizipationsprinzip wird sogar rechtlich verankert. So räumt die Charte de l’environnement vom 24.6.2004 in Art. 7 jedermann das Recht ein, „an der Entwicklung öffentlicher Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Umwelt haben, mitzuwirken“. Auch sieht die Organisation bestimmter services publics Formen von Selbstverwaltung vor, etwa für die Universitäten, deren Verwaltung im Gefolge des Mai 1968 durch die Loi E. Faure auf trilaterale Gremien übertragen wurde, die mit gewählten Vertretern der Hochschullehrer, des Verwaltungs- und Servicepersonals sowie der Studenten besetzt sind. Im Bereich der territorialen Verwaltung