Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
Parlament ratifiziert wurden. Art. 13 der Verfassung von 1946[92] verbietet diese Praxis, wird aber auf drei komplementären Wegen umgangen: Das als „loi Marie“ bezeichnete Gesetz vom 17.8.1948, der erste Versuch einer Unterscheidung zwischen Gesetz und Verordnung nach Maßgabe des Regelungsgegenstands, definiert Bereiche, für die kraft Natur der Sache der Verordnungsgeber zuständig ist. Das Parlament erlässt insoweit nur „lois cadre“ (Rahmengesetze), die der Regierung einen Spielraum belassen. Die Stellungnahme des Conseil d’État vom 6.2.1953 unterscheidet zwischen der Übertragung der Gesetzgebungsbefugnis, die nach Art. 13 verboten ist, und der temporären Erweiterung der Verordnungsbefugnis, der Art. 13 nicht entgegensteht. Dabei werden auch die jeweils relevanten Sachbereiche genannt. Indem sie dem Gesetzgeber Grenzen ziehen, sind auch die heutigen Art. 34 und 37 CF Teil dieser Entwicklung: Art. 34 CF zählt die Bereiche, für die der Gesetzgeber zuständig ist, abschließend auf und verfährt damit nach dem Prinzip der „Einzelermächtigung“, denn gemäß Art. 37 Abs. 1 CF werden „Bereiche, die nicht Gegenstand der Gesetzgebung sind, … auf dem Verordnungsweg geregelt“. Art. 34 CF scheint zwar zwischen Bereichen, die durch Gesetz geregelt werden, und solchen, für die durch Gesetz nur die Grundsätze geregelt werden, zu unterscheiden. Die Auslegung durch die Verwaltungsgerichte und den Conseil constitutionnel zeugt aber nicht nur von einem einheitlichen Verständnis des Art. 34 CF, sondern toleriert auch eine an den Bedürfnissen der Praxis ausgerichtete Abgrenzung zwischen den Zuständigkeiten des Gesetzgebers und den Zuständigkeiten des Verordnungsgebers: einerseits durch eine weite Auslegung der in Art. 34 CF aufgezählten Bereiche, andererseits durch Verfahrensregeln, nach denen ein Gesetz einen der Verordnung zugewiesenen Bereich regeln kann, ohne verfassungswidrig zu sein, und umgekehrt ein Gesetz verfassungswidrig ist, wenn es einen dem Gesetzgeber zugewiesenen Bereich nicht vollständig ausschöpft.[93]
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Der weite Bereich, in dem der Verordnungsgeber gesetzesunabhängig tätig werden kann (Art. 21 CF), kann ferner vorübergehend erweitert werden – durch gesetzliche Ermächtigung (Art. 38 CF) oder durch Referendum.[94] Während die zweite Möglichkeit eher Ausnahmecharakter hat, wird der Rückgriff auf Art. 38 CF zunehmend zu einem üblichen Verfahren der Rechtsetzung. Bei gesetzesausführenden Verordnungen ist der Verordnungsgeber an das ermächtigende Gesetz gebunden. Bei der übertragenen Gesetzgebung wäre das eigentlich auch so, wenn nicht das Parlament weitgehenden Kompetenzverzichten zustimmen würde.[95] Unter diesen Vorbehalten und unter Berücksichtigung des Gesetzmäßigkeitsprinzips verfügen die Regierungs- und Verwaltungsbehörden über einen Spielraum, in dem man mit Blick auf die gerichtliche Kontrolle auch eine Überdehnung des Gesetzmäßigkeitsprinzips sehen könnte.
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Die Behauptung, das Rechtsetzungsermessen entziehe das Verwaltungshandeln der Gesetzmäßigkeit, setzt freilich die Annahme voraus, Verwaltungsakte – und das Verwaltungshandeln insgesamt – seien nichts anderes als logische Ableitungen aus höherrangigen Normen. Mit der Forderung, die Verwaltung müsse aktiv und gestaltend tätig werden und benötige daher einen gewissen Spielraum, lässt sich das kaum vereinbaren. Die traditionelle und vereinfachende Gegenüberstellung von gebundener Verwaltung und Ermessensverwaltung ermöglicht aber nichtsdestotrotz, die Bedingtheit des Verwaltungshandelns zu erfassen. Die Ermessensfreiheit der Verwaltung ist Ausdruck ihrer Autonomie, bleibt aber an Rechtssätze gebunden: Um die Ermessensausübung beurteilen zu können, bedarf es einer Ermittlung des eingeräumten Ermessens bezüglich des gesamten Handelns (unbedingte Befugnis oder bedingte Befugnis im Sinne eines Handlungsvorbehalts, einer Handlungsmöglichkeit oder einer Handlungspflicht), des Inhalts der Maßnahme (autonome oder gesetzesunabhängige Verordnungen, von einer bereits existierenden Regelung mehr oder weniger umfassende und präzise vorgegebene gesetzesausführende Verordnungen oder von höherrangigem Recht vorgesehene Bewilligung von Ausnahmen) und des Handlungszeitpunkts (Fristen). Es gibt auch Abstufungen des Ermessens, die die Wirklichkeit des Verwaltungshandelns abbilden. Alles in allem: Auch wenn die Verwaltung nicht über ein Maß an Ermessen verfügt, das ihr eine der verfassunggebenden Gewalt vergleichbare Ungebundenheit (Souveränität) verleiht, reicht ihre Befugnis zum Erlass abstrakt-genereller Vorschriften doch sehr weit. Die Ausübung dieser Befugnis unterliegt allerdings einerseits gerichtlicher Kontrolle und ist andererseits durch die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie weitgehend beschränkt. An den Grenzen dieser Demokratie bewegen sich die unabhängigen Verwaltungsbehörden. Sie sind zwar Organe der Exekutive, zur Verwirklichung ihrer Unabhängigkeit aber einerseits dem Einflussbereich der Regierung entzogen und andererseits selbst mit einem Verordnungsrecht ausgestattet. Obwohl ihre Einrichtung auf den Gesetzgeber zurückgeht, ist die politische Kontrolle der unabhängigen Verwaltungsbehörden daher defizitär.[96]
bb) Beteiligung an der Normsetzung
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Die weitreichenden Befugnisse der Exekutive im Gesetzgebungsverfahren werfen die Frage auf, wie frei die Legislative bei der Einbringung von Vorschlägen, ihrer Diskussion und der abschließenden Entscheidung noch ist, unterliegt doch das Gesetzgebungsverfahren bestimmten Verfahrenszwängen wie etwa den Regeln über die Festlegung der Tagesordnung, die von der Regierung beherrscht wird (Art. 48 CF), oder der Befugnis der Regierung, das Parlament zur Annahme eines Entwurfs ohne Änderung und Debatte zwingen zu können (Art. 44 und Art. 49 Abs. 3 CF).[97] Zudem ist zu bedenken, dass der großen Mehrheit der verkündeten Gesetze Regierungsentwürfe zugrunde liegen. Die Gesetzesentwürfe werden dabei ebenso wie die Verordnungsentwürfe auf ministerielle Anordnung von den jeweiligen Verwaltungen ausgearbeitet; sie sind Gegenstand interministerieller Debatten und einer Überprüfung durch die juristischen Dienste, die sich in allen Ministerien entwickelt haben. Im Laufe dieses verwaltungsinternen Prozesses und vor ihrer Annahme durch den Conseil des ministres (Ministerrat), das höchste Gremium der interministeriellen Zusammenarbeit, werden die Gesetzes- und Verordnungsentwürfe aufgrund verfassungsrechtlicher Bestimmungen dem Conseil d’État vorgelegt, der traditionell die Regierung berät und das einzige umfassende Konsultativorgan ist.
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Der Conseil d’État bezieht seine Macht aus seiner Doppelfunktion als Berater und als Gericht. Aus diesem Grund und obwohl ihm die Kompetenz für die in Rede stehende Materie rechtlich nicht übertragen worden ist, haben die prinzipiell geheimen Stellungnahmen des Conseil d’État selbst dort, wo ihre Einholung nicht obligatorisch ist, große Bedeutung erlangt. Obligatorisch ist die Einholung der Stellungnahme des Conseil d’Etat vor der Beratung im Conseil des ministres für alle Gesetzesentwürfe, alle Verordnungsentwürfe (die daher als „décrets en Conseil d’État“ bezeichnet werden) sowie alle anderen Texte, für die eine Vorlage gesetzlich vorgesehen ist. Die Regierung ist zwar nicht verpflichtet, der Stellungnahme zu folgen, sie kann aber nur entweder den ursprünglichen Entwurf beibehalten oder ihn in der Fassung der Stellungnahme des Conseil d’État weiterverfolgen. Unzulässig ist die Verwendung einer dritten Fassung, ohne dass diese zuvor erneut dem Conseil d’État vorgelegt wird. Außerdem kann die Regierung fakultative Stellungnahmen einholen (bei den sogenannten décrets simples) oder auch Stellungnahmen zu „Schwierigkeiten im Bereich der Verwaltung“. Der Conseil d’État erstellt ferner Untersuchungen zu bestimmten Themengebieten, die (zum Beispiel im Bereich der Bioethik) Ausgangspunkt von Gesetzesvorhaben sein können. Um seine Beratungsfunktion erfüllen zu können, hat er spezielle Strukturen, die erst kürzlich gestärkt worden sind. Ein Dekret vom 6.3.2008, das der erste Bestandteil eines umfassenden Vorhabens ist, enthält vor allem eine Antwort auf die seit beinahe 20 Jahren kritisierte – schlechte – Qualität der Normen und ihre inflationäre Vermehrung. In der Annahme, dass „Frankreich zu viel und zu schlecht legiferiert“,[98] hat der Conseil d’État zwei Berichte zur Rechtssicherheit veröffentlicht, 1991 und 2006.[99] Zu dieser Situation, deren Gründe vielfältig sind, tritt die Entwicklung der übertragenen Gesetzgebung, die im Begriff ist, zum üblichen Modus der Gesetzgebung zu werden.[100]
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Als Beteiligter am Rechtsetzungsverfahren ist der Conseil d’État großem qualitativen