Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
der Kontrolle durch ein anderes Unternehmen ergeben, nach den Grundsätzen des internationalen Privatrechts erfolgen könne und eine Sonderregelung für die SE nicht erforderlich sei. Die Gegenauffassung hält an der Einbeziehung des Konzernrechts in die Generalverweisung fest, berücksichtigt die Erwägungsgründe jedoch bei der Anwendung der Verweisung, indem eine Abgrenzung nach dem jeweiligen Schutzzweck der einzelnen konzernrechtlichen Bestimmung vorgenommen wird, durch die eine weitgehende Kongruenz mit den IPR Regeln erreicht werden soll.[34] Die praktischen Auswirkungen der Streitfrage sind für SE mit satzungsmäßigem Sitz und Verwaltungssitz in Deutschland[35] gering, da beide Ansichten im Regelfall zu gleichen Ergebnissen führen.[36] Auch der deutsche Gesetzgeber unterstellt in § 49 SEAG ohne Weiteres die Anwendbarkeit des deutschen Konzernrechts auf SE mit Sitz im Inland.
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Hinsichtlich des Insolvenzrechts[37] ist die Reichweite der Spezialverweisung in Art. 63 SE-VO unklar und umstritten. Die Regelung erklärt hinsichtlich der Auflösung, Liquidation, Zahlungsunfähigkeit, Zahlungseinstellung und ähnlicher Verfahren die Rechtsvorschriften für anwendbar, die für eine Aktiengesellschaft maßgeblich wären, die nach dem Recht des Sitzstaates der SE gegründet worden ist, während der 20. Erwägungsgrund das Konkursrecht als außerhalb der SE-VO stehend bezeichnet. Offen ist in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis zur Europäischen Insolvenzordnung.[38] Im Ergebnis ist nicht anzunehmen, dass eine von der Europäischen Insolvenzordnung abweichende Sonderanknüpfung durch die SE-VO erfolgen soll, so dass Art. 63 einschränkend auszulegen ist.
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Während Einigkeit besteht, dass das Börsen- und Kapitalmarktrecht grundsätzlich außerhalb des Regelungsbereichs der SE-VO liegen,[39] soweit nicht die Verweisung in Art. 5 SE-VO eine Sonderregelung trifft, stellt sich die Frage, ob einzelne Regelungen, wie etwa das Vereitelungsverbot im Übernahmerecht (§ 33 WpÜG), gesellschaftsrechtlich zu qualifizieren und damit von der Verweisung der SE-VO umfasst sind,[40] eine derartige Einzelanknüpfung begegnet jedoch Bedenken, so dass das Übernahmerecht einheitlich nach kollisionsrechtlichen Grundsätzen Anwendung finden sollte.[41]
2 › II › 4. Einzelstaatliche Regelungen der Geschäftstätigkeit einer SE
4. Einzelstaatliche Regelungen der Geschäftstätigkeit einer SE
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Art. 9 Abs. 3 SE-VO räumt den Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, die für die von der SE ausgeübte Geschäftstätigkeit gelten, uneingeschränkte Anwendung ein. Die Regelung stellt somit klar, dass einzelstaatliche Regelungen, die an die Geschäftstätigkeit der SE anknüpfen, nicht durch das SE Statut verdrängt werden. Es handelt sich insoweit nicht um eine Verweisung, da die Anwendung der einzelstaatlichen Vorschriften nicht von der SE-VO abhängt, sondern eine partielle Ausnahme von dem Vorrang der SE-VO.
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Für eine Vielzahl von Vorschriften des deutschen Rechts, die die Geschäftstätigkeit einer Gesellschaft regulieren, versteht sich dies von selbst, da diese Aspekte der Tätigkeit einer SE nicht im Regelungsbereich der SE-VO liegen und somit von der Verordnung gar nicht erfasst werden. Beispielhaft sei nur auf das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen oder das Bundesimmissionsschutzgesetz verwiesen.
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Art. 9 Abs. 3 SE-VO lässt sich darüber hinaus jedoch entnehmen, dass auch diejenigen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts, die an die Tätigkeit der SE anknüpfen, aber Rückwirkungen auf das Organisationsrecht haben, uneingeschränkte Anwendung finden. Dies gilt insbesondere für Genehmigungsvorbehalte[42] und aufsichtsrechtliche Regelungen, die Einfluss auf die Zusammensetzung der Geschäftsführung nehmen. So ist es aufgrund der Regelung in Art. 9 Abs. 3 SE-VO der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht beispielsweise möglich, die Abwicklung einer SE, die der Institutsaufsicht des KWG unterliegt, gem. § 37 KWG unter den dort genannten Voraussetzungen anzuordnen und einen Abwickler zu bestellen, ohne dass dem die in der SE-VO verankerte Kompetenzordnung entgegenstehen würde.
2 › II › 5. Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 10 SE-VO
5. Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 10 SE-VO
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Art. 10 SE-VO ordnet an, dass eine SE vorbehaltlich der Bestimmungen der SE-VO in jedem Mitgliedstaat wie eine AG behandelt wird, die nach dem Recht des Sitzstaates der SE gegründet wurde. Die Vorschrift enthält ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot,[43] welches über die Frage des anwendbaren Rechts hinausweist.
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Innerhalb des Regelungsbereichs der Verordnung ergibt sich die Anwendbarkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften, die für eine nach dem Recht des Sitzstaates gegründete AG gelten, bereits aus der Generalverweisung. Diese Verweisung wird durch Art. 10 SE-VO flankiert in Bereichen außerhalb des unmittelbaren Regelungsbereichs der Verordnung, soweit mitgliedstaatliche Vorschriften an die Rechtsform der AG anknüpfen. Soweit also bspw. das UmwG nicht bereits aufgrund der Generalverweisung Anwendung findet, eröffnet Art. 10 SE-VO einer SE mit dem Sitz in Deutschland grundsätzlich die Möglichkeit, sich wie eine AG als aufnehmender oder übertragender Rechtsträger an einer Verschmelzung oder Spaltung zu beteiligen, auch wenn die SE in § 3 Abs. 1 Nr. 2 UmwG nicht ausdrücklich als umwandlungsfähiger Rechtsträger aufgeführt ist. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob und inwieweit die Regelungen der SE-VO, namentlich die Gründungsvorschriften und Art. 66 SE-VO, als abschließend anzusehen sind, sodass die spezifischen Regelungen der SE-VO den Rückgriff auf das nationale Umwandlungsrecht sperren.[44]
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Art. 10 SE-VO kommt darüber hinaus etwa zum Tragen, wenn Mitgliedstaaten für gewisse Geschäftstätigkeiten eine bestimmte Rechtsform vorsehen: Soweit das jeweilige Betätigungsfeld einer AG offen steht, gilt dies unmittelbar aufgrund der SE-VO auch für die SE, ohne dass es einer Gesetzesänderung bedürfte.[45]
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Aus Art. 10 SE-VO ergibt sich zugleich ein allgemeines Diskriminierungsverbot gegenüber der SE, sodass ein Mitgliedstaat auch dazu gezwungen sein kann, für eine Gleichstellung mit der AG Sorge zu tragen, wenn eine unmittelbare Anwendung von Art. 10 SE-VO nicht möglich sein sollte.
2 › II › 6. Auslegungskompetenz und Reichweite der Verweisungen
6. Auslegungskompetenz und Reichweite der Verweisungen
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Da es sich bei der SE-VO um einen europäischen Rechtsakt handelt, steht die Auslegungskompetenz dem Europäischen Gerichtshof gem. Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu. Dies gilt auch für Entscheidungen über die Frage, ob über eine Verweisung in der Verordnung nationales Recht anzuwenden ist. Die Auslegung des nationalen Rechts, das kraft Verweisung Anwendung findet, hingegen bleibt Sache des nationalen Gerichts, da sich der europäische Gesetzgeber insoweit einer Regelung enthalten hat und das mitgliedstaatliche Recht nicht aufgrund der Verweisung zu europäischem Recht wird.
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Die Verweisungen beziehen sich als dynamische