Verteidigung von Ausländern. Jens Schmidt
35, 291, 294.
Vgl. auch Ventzke StV 1994, 337, 338; Jung StV 2004, 567 ff.
Teil 1 Verteidigung und Ausländerrecht › II. Verteidigungsstrategien zur Vermeidung der Ausweisung › 1. Vorbemerkung
1. Vorbemerkung
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Zum Jahresanfang 2016 wurde das im Aufenthaltsgesetz geregelte Ausweisungsrecht grundlegend reformiert bzw. erheblich verschärft. Eine erste Änderung[1] trat zum 1.1.2016 in Kraft und war in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass der Gesetzgeber erheblichen Änderungsbedarf sah,[2] nachdem das bislang geltende Ausweisungsrecht – insbesondere durch die Rechtsprechung des EGMR – immer mehr Ausnahmen von der bislang geltenden Ausweisungssystematik vorsah. So war z.B. bereits nach altem Recht anerkannt, dass im Hinblick auf Art. 8 EMRK auch im Falle der „zwingenden Ausweisung“ (§ 53 AufenthG a.F.) eine Einzelfallprüfung geboten sein kann,[3] womit der Ausweisung zugleich der als „zwingend“ bezeichnete Charakter genommen wurde. Die erste Novelle diente also in erster Linie einer Anpassung an das durch die Rechtsprechung fortgebildete Recht; gleichwohl war bereits mit der ersten Änderung des AufenthG eine (erhebliche) Verschärfung einzelner Ausweisungstatbestände verbunden, da die Voraussetzungen gegenüber dem bislang geltenden Recht zum Teil erheblich herabgesetzt worden sind. Kaum war die Gesetzänderung in Kraft getreten entbrannte nach den „Kölner Vorfällen“ in der Silvesternacht 2015 eine (weitere) Diskussion um die Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes, die schließlich in eine zweite Novelle[4] mündete, welche zum 17.3.2016 in Kraft trat.
Hinweis
Eine Anpassung der Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz ist bislang nicht erfolgt. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Richtlinien zur alten Rechtslage übernommen werden, sofern die neue Rechtslage keinen zwingenden Anlass zur Änderung gibt. Wenn in der nachfolgenden Darstellung auf die Anwendungshinweise verwiesen wird, erfolgt dies in der Erwartung, dass die bislang geltenden Regelungen durch die Verwaltung auch weiterhin angewendet bzw. bei Änderung der Anwendungshinweise übernommen werden.
Gleiches gilt, soweit die nachfolgende Darstellung auf Rechtsprechung verweist, die vor dem 1.1.2016 ergangen ist; insoweit besteht die Erwartung, dass die dort zitierten Entscheidungen auf die Neuregelungen (entsprechend) angewandt werden.
Anmerkungen
Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27.7.2015, BGBl. I, 1386 ff.
BT-Drucks. 18/4097, S. 23, 49; Vgl. Bergmann/Dienelt-Bauer Vorb §§ 53–56 AufenthG Rn. 9.
Vgl. die 3. Auflage, Rn. 68, 96.
Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern, BGBl. 2016, 394 ff.
Teil 1 Verteidigung und Ausländerrecht › II. Verteidigungsstrategien zur Vermeidung der Ausweisung › 2. Nicht-EU-Ausländer (Erwachsene)
2. Nicht-EU-Ausländer (Erwachsene)
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Auf Nicht-EU-Ausländer findet die Ausweisungssystematik der §§ 53 ff. AufenthG Anwendung.
§ 53 AufenthG enthält insoweit die für jede Ausweisung anzuwendende Grundnorm.[1] Anders als unter Geltung des alten Ausweisungsrechts ist stets eine Abwägung der beteiligten Interessen im Einzelfall erforderlich, wobei die zum alten Recht entwickelten Grundsätze, insbesondere die Geltung und Reichweite von Art. 8 EMRK,[2] zu berücksichtigen sind; ein abgestuftes System von „Ist-“, „Regel-„ und „Kann-Ausweisung“ ist nicht mehr vorgesehen, es existiert nur noch ein Ausweisungstatbestand.[3] Der Grundtatbestand wird durch §§§ 54, 55 AufenthG ergänzt[4]; während § 54 AufenthG das „Ausweisungsinteresse“ konkretisiert, wird in § 55 AufenthG das „Bleibeinteresse“ des betroffenen Ausländers normiert. Die Vorschriften orientieren sich an den Regelungen zum alten Recht, wobei einzelne Ausweisungstatbestände (ersatzlos) gestrichen[5] und bei anderen durch Absenkung der Voraussetzungen eine erhebliche Verschärfung erfolgt ist. Daneben ist in Abweichung zum alten Recht über die Ausweisung nicht (mehr) nach Ermessen zu entscheiden, d.h. es liegt eine gebundene Entscheidung vor, die bei Fehlen der Voraussetzungen im gerichtlichen Verfahren durch das Gericht ersetzt werden kann.[6] Wird der Ausländer ausgewiesen, gilt es schließlich zu beachten, dass das neue Ausweisungsrecht eine Befristung zwingend vorschreibt (vgl. § 11 Abs. 2 AufenthG); die Ausländerbehörde kann die Entscheidung nicht mehr – wie nach altem Recht oftmals üblich – zurückstellen.
Hinweis
Über die Ausgestaltung der Befristung – insbesondere die Länge der Frist – ist dagegen nach Ermessen zu entscheiden, so dass die Entscheidung der Ausländerbehörde teils als gebundene teils als Ermessensentscheidung ergeht; der systematische Bruch wird zurecht als „unglücklich“ kritisiert,[7] es bleibt abzuwarten wie die Praxis mit dem Problem umgehen wird.
a) Ausweisungsinteresse
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Bereits die Unkenntnis der Ausweisungstatbestände kann schnell zu einem Fallstrick werden; so sollte der Verteidiger beispielsweise wissen, dass der Drogenkonsum einen Ausweisungsgrund darstellen kann (§ 54 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG), wenn er diesen Umstand strafmildernd geltend machen will. Die richtige Wahl der Verteidigungsstrategie setzt daher eine detaillierte Kenntnis der einzelnen Ausweisungstatbestände voraus.
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In Anlehnung an die frühere Rechtslage unterscheidet das neue Recht zwischen verschiedenen Fallgruppen, die als „schwer-“ (§ 54 Abs. 2 AufenthG) bzw. „besonders schwerwiegend“ (§ 54 Abs. 1 AufenthG) eingestuft werden. Der Ausweisungsgrund wird also durch die Regelung seinem Schweregrad nach bewertet und – als eine Art Gegengewicht – dem Bleibeinteresse des Betroffenen im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung gegenübergestellt.
Im Einzelnen gilt Folgendes:
aa) Das „schwerwiegende“ Ausweisungsinteresse (§ 54 Abs. 2 AufenthG)
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Hat ein bestimmter Lebenssachverhalt in § 54 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG eine Regelung erfahren, kann selbst dann nicht auf die Grundnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG zurückgegriffen werden, wenn § 54 AufenthG die Ausweisung aufgrund dieses Sachverhalts an bestimmte Voraussetzungen knüpft, die im konkreten Einzelfall nicht vorliegen; liegt also eine Zuwiderhandlung gegen Rechtsnormen vor, steht einer Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG die Sperrwirkung der spezielleren Norm (§ 54 AufenthG) entgegen (vgl. 55.1.0 Anwendungshinweise zum AufenthG)[8]. Das Interesse des Verteidigers sollte sich daher in erster Linie auf die Vorschrift des § 54 AufenthG konzentrieren. Insofern sind folgende Ausweisungstatbestände von besonderer Bedeutung:
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