Verteidigung von Ausländern. Jens Schmidt
Ausweisungsgründe eigentlich überflüssig.
Da an der Regelung gleichwohl festgehalten worden ist, dürfte die zum alten Recht entwickelte Rechtsprechung fortgelten:
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Ein vereinzelter oder geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, d.h. Gesetze, Rechts-, Polizeiverordnungen oder Satzungen, erfüllt bereits nicht den Tatbestand. Umgekehrt bedeutet dies, dass auch ein vereinzelter Verstoß den Tatbestand erfüllt, wenn dieser nicht geringfügig ist und ein geringfügiger Verstoß die Ausweisung rechtfertigen kann, wenn dieser nicht nur vereinzelt begangen worden ist.[33]
Wann ein strafrechtlich erheblicher Verstoß als nicht mehr geringfügig anzusehen ist, konnte früher nur anhand einer umfangreichen Kasuistik beantwortet werden; dem Grundsatz nach galt, dass ein strafbares Verhalten keinen geringfügigen Rechtsverstoß darstellt.
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Die Frage hat durch die Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz eine Präzisierung erfahren, deren Kenntnis unabdingbare Voraussetzung einer sachgerechten Verteidigung ist. Danach ist für die Bestimmung, ob ein geringfügiger Verstoß i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vorliegt u.a. Folgendes von Bedeutung:
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Eine Straftat, die zu einer Verurteilung bis zu 30 Tagessätzen geführt hat, ist als geringfügig anzusehen (vgl. 55.2.2.3.1 Anwendungshinweise zum AufenthG).
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Eine mit Strafe bedrohte Tat kann nach erfolgter Einstellung des Strafverfahrens (§ 153a StPO) als geringfügig eingestuft werden, wenn der wegen dieser Tat festgesetzte Geldbetrag nicht mehr als 500 € beträgt (vgl. 55.2.2.3.2 Anwendungshinweise zum AufenthG)[34].
Hinweis
• | Diesen Gesichtspunkt sollte der Verteidiger stets bedenken, wenn er mit Gericht und/oder Staatsanwaltschaft über eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153a StPO verhandelt; gegebenenfalls kann dies auch ein Argument für die Reduzierung des festzusetzenden Geldbetrages sein. Lehnt der Mandant ein Einstellungsangebot – unterhalb der 500 €-Grenze – ab, sollte er dahingehend aufgeklärt werden, dass im Falle der Verurteilung bereits bei einer Geldstrafe von mehr als 30 Tagessätzen ausländerrechtliche Maßnahmen drohen. Wird dieser „Schwellenwert“ nicht erreicht, kann der Mandant wegen eines nicht nur vereinzelten Rechtsverstoßes ausgewiesen werden, wenn er über (einschlägige) Vorahndungen verfügt. Der Mandant geht also ein hohes Risiko ein, wenn er ein entsprechendes Angebot ausschlägt. |
• | Übersteigt der festzusetzende Geldbetrag die 500 €-Grenze, sollte – in Absprache mit dem zuständigen Staatsanwalt – eine (geständige) Einlassung vermieden werden; andernfalls droht die Gefahr, dass die Angaben des Mandanten im verwaltungsrechtlichen Verfahren zu seinem Nachteil verwertet werden. |
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Eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld von nicht mehr als 1.000 € geahndet werden kann, ist im Hinblick auf die in § 87 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung selbst dann als geringfügig anzusehen, wenn es sich um einen Wiederholungsfall handelt[35]; in diesem Fall kann jedoch eine Ausweisung wegen eines nicht nur vereinzelten Verstoßes gegen Rechtsvorschriften in Betracht kommen (vgl. 55.2.2.3.3 Anwendungshinweise zum AufenthG).
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Eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer höheren Geldbuße als 500 € geahndet worden ist, stellt gemäß 55.2.2.3.4 Anwendungshinweise zum AufenthG in der Regel keinen geringfügigen Rechtsverstoß dar.[36]
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Der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG setzt nicht voraus, dass der Verstoß schuldhaft begangen worden ist; es genügt bereits die objektive Rechtswidrigkeit.[37]
Hinweis
Dies sollte der Verteidiger beachten, wenn das Ermittlungsverfahren mit der Argumentation eingestellt wird, „der Beschuldigte habe jedenfalls nicht schuldhaft gehandelt“. Zwar ist die Staatsanwaltschaft – nach h.M.[38] – nicht verpflichtet, das Ermittlungsverfahren mit dem Ziel des Nachweises der Unschuld fortzuführen; ist jedoch der hinreichende Tatverdacht bereits aus anderen Gründen nicht gegeben, sollte jedenfalls in eindeutigen Fällen der Versuch der Gegenvorstellung unternommen werden. Andernfalls sieht sich der Rechtsanwalt der Gefahr ausgesetzt, der Ausländerbehörde gegenüber erklären zu müssen, dass das Ermittlungsverfahren zwar mangels Schuldfähigkeit eingestellt worden sei, das Verhalten seines Mandanten aber dennoch keinen Straftatbestand erfülle. Dass der Versuch, die Staatsanwaltschaft zu überzeugen, eher von Erfolg gekrönt sein wird, bedarf keiner weiteren Erklärung.
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Ob der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bereits erfüllt ist, wenn lediglich der (dringende) Verdacht einer Straftat gegeben ist, war bislang umstritten.[39] Während eine entsprechende Auslegung von Teilen des Schrifttums[40] abgelehnt wird, ist die „Verdachtsausweisung“ in den Anwendungshinweisen zum Aufenthaltsgesetz ausdrücklich vorgesehen (vgl. 55.2.2.4 Anwendungshinweise zum AufenthG). Die Verwaltungsvorschrift folgt damit der bislang herrschenden Rechtsprechung,[41] die die Verdachtsausweisung im Hinblick auf den ordnungsrechtlichen Charakter der Ausweisung für zulässig hält.
Erhebliche Bedeutung kommt der Verdachtsausweisung vor allem für solche Tatbestände zu, die eine rechtskräftige Verurteilung voraussetzen, da der Ausländer in diesen Fällen bereits im Ermittlungsverfahren ausgewiesen werden kann. Eine entsprechende Vorgehensweise ist in den Anwendungshinweisen zum AufenthG (vgl. 55.2.2.5) ausdrücklich vorgesehen.
Hinweis
Die frühzeitige Ausweisung ist insbesondere dann äußerst misslich, wenn im Falle des Zuwartens – unter Mitwirkung des Mandanten – die Möglichkeit bestanden hätte, die Ausweisung doch noch zu vermeiden. Im Regelfall wird es daher ratsam sein, gegen die Ausweisungsverfügung selbst dann Widerspruch einzulegen, wenn praktisch keine oder nur minimale Erfolgsaussichten bestehen. Dabei wird insbesondere zu prüfen sein, ob die Staatsanwaltschaft das notwendige Einverständnis erteilt hat (vgl. § 72 Abs. 4 AufenthG). Ist dies nicht der Fall, ist die Ausweisung bereits aus diesem Grunde rechtswidrig.[42]
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Wird die Ausweisung gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG auf eine Auslandstat gestützt, kommt es nicht darauf an, ob die Tat im Ausland mit Strafe bedroht ist oder in den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts fällt, d.h. eine Verurteilung im Bundesgebiet möglich wäre; allein entscheidend ist die Frage, ob der konkrete Sachverhalt nach deutschem Recht als vorsätzliche Straftat anzusehen wäre.[43]
Hinweis
Soweit die alte Rechtslage u.a. die Möglichkeit der Ausweisung im Falle längerfristiger Obdachlosigkeit (§ 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG a.F.) oder Inanspruchnahme von Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie oder Hilfe für junge Volljährige nach dem Achten Buch des Sozialgesetzbuchs (§ 55 Abs. 2 Nr. 7 AufenthG a.F.) vorsah, sind die entsprechenden Regelungen ersatzlos gestrichen worden.
bb) Das „besonders schwerwiegende“ Ausweisungsinteresse (§ 54 Abs. 1 AufenthG)
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Das Ausweisungsinteresse wiegt besonders schwer, wenn ein in § 54 Abs. 1 AufenthG genannter Tatbestand erfüllt ist:
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§ 54 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. Besonders schwer wiegt das Ausweisungsermessen gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wenn der Ausländer wegen einer