Verteidigung von Ausländern. Jens Schmidt
gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besonderen Schutz; gefordert ist ein kontinuierlicher Aufenthalt, weshalb die Regelung nicht eingreift, wenn der Minderjährige zwischenzeitlich ausgereist und als Volljähriger in das Bundesgebiet zurückgekehrt ist.[60]
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§ 55 Abs. 1 Nr. 3. Neben einer Aufenthaltserlaubnis – eine bestimmte Art ist nicht gefordert[61] – verlangt die Vorschrift die Existenz einer tatsächlich geführten familiären oder lebenspartnerschaftlichen Lebensgemeinschaft; ein Verlöbnis genügt nicht.[62]
Hinweis
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung des Ausweisungsschutzes ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung;[63] auf diesen Umstand ist der ausländische Mandant hinzuweisen, sofern er z.B. beabsichtigt (nach der Haftentlassung), eine Ehe bzw. Lebenspartnerschaft mit einer der in § 55 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AufenthG genannten Personen einzugehen.
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§ 55 Abs. 1 Nr. 4. Familiäre Beziehungen zu einem deutschen Staatsangehörigen werden in § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG als besonders schutzbedürftig eingestuft. Zu den Familienangehörigen gehören in erster Linie die Kernfamilie – Eltern, Ehefrau bzw. Ehemann und Kinder -; nach den Umständen des Einzelfalles können aber auch weitere Verwandte – z.B. Großeltern, Enkel oder Schwiegerkinder – erfasst sein, wenn zu diesen eine eng geprägte, familiäre Beziehung besteht.[64] Soweit § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG die Ausübung eines Umgangsrechtes voraussetzt, ist ein familiäres Zusammenleben im Sinne einer häuslichen Gemeinschaft nicht erforderlich.[65]
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§ 55 Abs. 1 Nr. 5. Der Vorschrift kommt keine Bedeutung zu, da subsidiär schutzberechtigte i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG den erhöhten Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG genießen.[66]
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§ 55 Abs. 1 Nr. 6. Humanitäre Gründe können unter den Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz begründen.
Hinweis
• | Da Unionsbürger bzw. Drittausländer mit vergleichbarer Rechtsposition zwischenzeitlich umfassenden Ausweisungsschutz genießen, kommt Art. 3 ENA nach heute geltendem Recht keine praktische Relevanz mehr zu.[67] |
• | Freizügigkeitsberechtigte Ausländer genießen besonderen Ausweisungsschutz nach dem FreizügG/EU; unter bestimmten Voraussetzungen gilt dies auch für deren Familienangehörige, wobei es auf die Staatsangehörigkeit des Familienmitgliedes nicht ankommt (vgl. dort Rn. 100 ff.). |
c) Gefahrenprognose
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Ist ein Ausweisungstatbestand erfüllt oder zu erwarten, dass im Falle der Verurteilung dessen Voraussetzungen vorliegen werden, kommt der erforderlichen Gefahrenprognose die entscheidende Bedeutung zu; grob fehlerhaft wäre jedoch die Annahme, der Verteidiger könne insoweit keinen Einfluss nehmen, „da es sich um eine gebundene Entscheidung handele, die letztlich vom Verwaltungsgericht zu treffen sei“. Die Entscheidung setzt nämlich u.a. eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung voraus; da insoweit zumeist auf die schriftlichen Urteilsgründe des Strafgerichts zurückgegriffen wird, sollte bereits im Strafverfahren die Basis für eine dem ausländischen Mandanten günstige Entscheidung der Ausländerbehörde geschaffen werden. Je milder die Urteilsgründe, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ausweisung unterbleibt (vgl. Rn. 87 ff.).
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Im Rahmen der erforderlichen Gefahrenprognose ist weiter zu berücksichtigen, dass die Ausweisung grundsätzlich sowohl auf spezial- als auch generalpräventive Gründe gestützt werden kann[68]. Insoweit ist aber stets zu prüfen, ob die Möglichkeit der generalpräventiv motivierten Ausweisung aufgrund Gesetzes oder völkerrechtlichen Vertrages ausnahmsweise ausgeschlossen ist, da in diesen Fällen die Ausweisung regelmäßig nicht in Betracht kommt, wenn die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Im Einzelnen gilt Folgendes:
aa) Spezialpräventive Ausweisungsgründe
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Die Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen setzt die Gefahr voraus, dass der Ausländer durch sein persönliches Verhalten erneut einen Ausweisungsgrund verwirklichen wird. Die Wiederholungsgefahr muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestehen. Bei der Prognose ist insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Je schwerer das Ausweisungsinteresse wiegt, desto geringer sind die Anforderungen an das Vorliegen der Wiederholungsgefahr;[69] bei Gewalttaten kann unter Umständen bereits die entfernte Möglichkeit weiterer Verfehlungen genügen.[70]
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Hat das Strafgericht in Erwartung zukünftiger Straffreiheit die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt (§ 56 StGB), muss die Ausländerbehörde dieser sachkundigen strafrichterlichen Prognose wesentliche Bedeutung beimessen und darf von dieser nur ausnahmsweise bei Vorliegen überzeugender Gründe abweichen;[71] die Ausweisung wird daher regelmäßig ausscheiden, wenn das Gericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt hat.[72]
Hinweis
Liegt der Verurteilung eine Verständigung zugrunde, sollte das Gericht „gebeten“ werden, das Urteil bzgl. der günstigen Sozialprognose umfassend zu begründen, d.h. von der Möglichkeit eines abgekürzten Urteils (§ 267 Abs. 4 Satz 1 StPO) keinen Gebrauch zu machen; andernfalls besteht die Gefahr, dass die Ausländerbehörde zusätzliche – negative – Feststellungen bzgl. der Sozialprognose trifft, da sie die Urteilsgründe für nicht ausreichend erachtet.
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Hinsichtlich der Aussetzung des Strafrestes[73] (§ 57 StGB, § 88 JGG[74]) ist bislang die Ansicht vertreten worden, dass diese der spezialpräventiv motivierten Ausweisung grundsätzlich nicht entgegensteht. Zwar sei die Aussetzungsentscheidung von tatsächlichem Gewicht;[75] da die Aussetzung des Strafrests jedoch – anders als die Aussetzung gemäß § 56 StGB – den Ausschluss der Wiederholungsgefahr nicht voraussetze, sondern bereits zulässig sei, wenn verantwortet werden könne zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb der Strafhaft keine Straftaten mehr begehen wird, könne ihr nicht das gleiche Gewicht beigemessen werden wie einer nach § 56 StGB erfolgten Aussetzungsentscheidung.[76] Vor dem Hintergrund, dass die „Erprobungsklausel“ durch Art. 1 Nr. 2 SexualDelBekG eine erhebliche Einschränkung erfahren hat, erscheint es allerdings fraglich, ob dieser Meinung noch zu folgen ist.[77]
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Die Beantwortung der Frage, ob nach den konkreten Umständen des Einzelfalls die Annahme einer Wiederholungsgefahr gerechtfertigt ist, erfordert nach h.M.[78] nur in Ausnahmefällen – etwa bei Beurteilung psychischer Erkrankungen[79] – die Hinzuziehung eines Sachverständigen (vgl. 53.0.3.1.2 Anwendungshinweise zum AufenthG).
Hinweis
In geeigneten Fällen sollte daher der Verteidiger versuchen, bereits im Strafverfahren ein positives Sachverständigengutachten zu erwirken, um auf diese Weise den Spielraum der Ausländerbehörde zusätzlich einzuschränken.
Ein entsprechendes Vorgehen kann vor allem in Kapitalstrafsachen von Bedeutung sein; lehnt der Sachverständige die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB ab, kann es gleichwohl eine wertvolle Hilfe darstellen, wenn er die Wiederholungsgefahr mit überzeugenden Gründen ausschließt. Hierzu sollte