Verteidigung von Ausländern. Jens Schmidt
den Vorschriften weitgehend Symbolcharakter beizumessen sein dürfte.[50]
b) Bleibeinteresse
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Ist ein Ausweisungstatbestand gegeben ist diesem im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung das Bleibeinteresse des betroffenen Ausländers gegenüberzustellen; auch insoweit gibt der Gesetzgeber eine normative Wertung vor,[51] indem er in § 55 AufenthG vorgibt, in welchen Fällen das Bleibeinteresse „schwer“ bzw. „besonders schwer“ wiegt. Während die in Abs. 1 bezeichneten Fallgruppen abschließend sind, hat der Gesetzgeber durch Verwendung des Wortes „insbesondere“ in Abs. 2 zum Ausdruck gebracht, dass die dortige Aufzählung lediglich beispielhaft erfolgt;[52] so kann z.B. auch die Betreuung einer erwachsenen Person ein Bleibeinteresse begründen.[53] Erfüllt ein Ausländer mehrere Voraussetzungen kann dies das Bleibeinteresse zusätzlich verstärken; gleichwohl verbietet sich eine (normative) Addition, die Abwägung hat stets einzelfallbezogen zu erfolgen.[54]
aa) Das „schwerwiegende“ Bleibeinteresse (§ 55 Abs. 2 AufenthG)
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Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG wiegt „schwer“, wenn
1. | der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt; |
2. | der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält; |
3. | der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen der mit diesem sein Umgangsrecht ausübt; |
4. | der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten bzw. aufhält; |
5. | die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder |
6. | der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a Satz 1 AufenthG besitzt. |
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In § 55 AufenthG hat der Gesetzgeber im Wesentlichen Tatbestände übernommen, die bereits nach altem Recht einen (besonderen) Ausweisungsschutz begründet haben. Im Einzelnen gilt Folgendes:
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§ 55 Abs. 2 Nr. 1. Minderjährige Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, genießen Ausweisungsschutz nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG.
Hinweis
Maßgeblich für die Anwendung der Schutzvorschrift ist der Zeitpunkt der Entscheidung, so dass diese nicht eingreift, wenn der betroffene Ausländer nach Erlass der Ausweisungsverfügung – aber vor einer bestandskräftigen Entscheidung – volljährig wird.[55]
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§ 55 Abs. 2 Nr. 2. Anders als § 55 Abs. 1 Nr. 1–3 sowie Abs. 2 Nr. 3 und 4 AufenthG setzt das Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus[56]; im Übrigen gelten keine weiteren Besonderheiten.
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§ 55 Abs. 2 Nr. 3. Der Aufenthaltsstatus des betroffenen Ausländers ist gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG ebenfalls unbeachtlich, sofern dieser ein Umgangsrecht bzgl. eines ledigen und minderjährigen Kindes ausübt, welches sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Ist das Kind nach ausländischem Recht verheiratet, gilt dieses gleichwohl als „ledig“, sofern die Ehe nach deutschem Recht keine Anerkennung findet.[57] Ist der Aufenthaltsstatus des Kindes ungeklärt, findet § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG keine Anwendung.[58]
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§ 55 Abs. 2 Nr. 4. Halten sich die Eltern eines minderjährigen Kindes rechtmäßig im Bundesgebiet auf, genießt der minderjährige Ausländer gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz unabhängig vom eigenen Aufenthaltsstatus.
Hinweis
• | Da der Ausweisungsschutz ohne Rücksicht auf den eigenen ausländerrechtlichen Status gilt, besteht der Schutz selbst im Falle des illegalen Aufenthalts (vgl. 56.2.2.4 Anwendungshinweise zum AufenthG). |
• | Da der Ausweisungsschutz keine familiäre Lebensgemeinschaft mit den Eltern oder dem personensorgeberechtigten Elternteil voraussetzt, ist der minderjährige Ausländer auch dann geschützt, wenn er bei einem Dritten oder in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht ist (56.2.2.4 Anwendungshinweise zum AufenthG). |
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§ 55 Abs. 2 Nr. 5. Da minderjährige Ausländer bereits durch andere Tatbestände besonderen Schutz genießen, kommt § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG im Wesentlichen eine Art Auffangfunktion zu, so z.B. für unbegleitete Minderjährige.[59]
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§ 55 Abs. 2 Nr. 6. Die Vorschrift enthält neben dem notwendigen Titel keine weiteren Voraussetzungen.
bb) Das „besonders schwerwiegende“ Bleibeinteresse
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Das Bleibeinteresse des Ausländers wiegt gemäß § 55 Abs. 1 AufenthG „besonders schwer“, wenn der Ausländer
1. | eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, |
2. | eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, |
3. | eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nrn. 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, |
4. | mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt, |
5. | die Rechtsstellung eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG genießt oder |
6. | eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 AufenthG, den §§ 24, 25 Abs. 4a Satz 3 AufenthG oder nach § 29 Abs. 2 oder 4 AufenthG besitzt. |
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§ 55 Abs. 1 Nr. 1. Die Vorschrift setzt neben dem Besitz einer Niederlassungserlaubnis einen rechtmäßigen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren voraus; Fiktionzeiten werden nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG angerechnet.
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