Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
seiner Grenzen hin. In dieser Beziehung ist es das Ziel, die allgemeinen Züge der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, ausgehend von den Entwicklungen in den jeweiligen europäischen Staaten, darzustellen.[2] Soweit es sich um eine Entwicklung handelt, deren Bezugspunkt ein so bedeutungsbeladener Gegenstand wie Europa ist,[3] muss das rein räumliche Verständnis durch ein historisch-kulturelles Verständnis von Europa, das sowohl den Kontinent als Ganzes als auch die einzelnen europäisch geprägten Staaten einbezieht, ergänzt werden.[4]
2
Zweitens bestimmt Europa die folgende Behandlung insofern, als dieses Kapitel einer vorgegebenen Perspektive folgt, die durch die Bezeichnung „europäischer Rechtsraum“ ausgedrückt wird.[5] Die Modernität, die Jugend sogar, dieses Konzepts, aus dessen Perspektive diese Evolution dargestellt wird, verleiht der gegenwärtigen Lage der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa besondere Bedeutung, deren „Vorläufer“ es zu erforschen gilt.
3
Der Kontext für diese evolutionäre Behandlung ist das Ius Publicum Europaeum[6] als „wissenschaftliches Gemeinschaftswerk“,[7] dessen methodologisches Gravitationszentrum die Rechtsvergleichung bildet.[8] Dieser für die Gesamtkonzeption des Werkes maßgebliche rechtsvergleichende Ansatz wird auch in diesem evolutionären Kapitel beibehalten. Es ist also nicht beabsichtigt, an dieser Stelle einen Exkurs in die Verfassungsgeschichte zu unternehmen. Die Autorinnen und Autoren der nationalen Berichte des vorhergehenden Bandes haben sich, wenn es erlaubt ist, für sie zu sprechen, bei der Darstellung der Vorläufer und/oder der Entwicklung der jeweiligen Institutionen der Verfassungsgerichtsbarkeit an den vergleichenden methodologischen Ansatz gehalten.[9] In ähnlicher Weise soll auch hier, wo es darum geht, hauptsächlich auf der Grundlage der zur Verfügung gestellten nationalen Berichte ein evolutives Gesamtkonzept der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa vorzustellen, das vergleichende Verfassungsrecht die Oberhand behalten. Die folgende Darstellung hat, unabhängig von der unentbehrlichen Zusammenarbeit zwischen Rechtsvergleichungs- und Rechtsgeschichtswissenschaft im europäischen Raum,[10] keinesfalls das Ziel, die vergleichende Verfassungsgeschichtsschreibung als solche zu ersetzen: Vielmehr setzt sie letztere voraus.[11] Kurz gesagt wird der Ausgangspunkt nicht so sehr der einer vergleichenden Verfassungsgeschichte als vielmehr der einer retrospektiven Verfassungsvergleichung sein.[12]
4
Dass diese Aufgabe an erster Stelle die Rechtsvergleichung betrifft, ist auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen, eine Verfassungsgeschichte, und in der Folge eine Geschichte der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit zu vermitteln.[13] Man ist vielmehr mit einer Vielzahl verschiedenartiger nationaler Narrative konfrontiert, an Hand derer evolutionäre Gemeinsamkeiten zu identifizieren sind. Erst heute ist es möglich, ohne die Komplexität des europäischen Verfassungsverbunds[14] außer Acht zu lassen, von einem integrierten europäischen Rechtsraum zu sprechen.[15] Was die Zeit zuvor angeht, hätte man sich, um von einem Rechtsraum zu sprechen, nur auf die wohl elastischere Kategorie „Kultur“ beziehen können, in unserem Falle auf die Verfassungskultur Europas.[16]
5
Des Weiteren weisen die nationalen Berichte nicht nur auf eine Pluralität von historischen Entwicklungen hin, sondern ebenfalls auf eine Pluralität von Ideen.[17] So wie die Verfassung schon vor ihrer Verwirklichung am Ende des 18. Jahrhunderts „vorgedacht“ wurde,[18] so wurde auch die Verfassungsgerichtsbarkeit schon vor ihrer Einführung in Europa in ihren verschiedenartigen Ausformungen angedacht. Jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: während die Legitimität der Verfassung, nachdem sie einmal zustande gekommen war, als solche nicht weiter in Frage gestellt wurde, wurden sowohl die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit als solche als auch die Meinungen über sie fortlaufend debattiert. Und das vor allem, um nicht über die Erfahrungen mit derselben zu sprechen. Nicht umsonst hat sich die Verfassungsgerichtsbarkeit unter allen technischen Erfindungen des Verfassungsarsenals als die unbequemste in Europa erwiesen.[19]
6
Im Gegensatz dazu stellt sich am Ende dieser Entwicklung und mit Blick auf den Rechtsraum Europa sogleich die Frage nach der ultimativen Weitergeltung der Rechtsvergleichung als Methode.[20] Denn es scheint, dass man inzwischen an einem Punkt angekommen ist, an dem die an sich vergleichende Untersuchung dieser Evolution nicht mehr als Rechtsvergleichung stricto sensu angesehen werden kann. Die Aussage, dass man bis zum Ende dieser Entwicklung auf dem festen Boden der Vergleichung bleibt, ist an sich nicht inkorrekt, verlangt aber der Nuancierung. Sie ist insofern zutreffend, als die jeweiligen hier analysierten Entwicklungen anfangs – und teilweise immer noch – als national gelten. Gleichzeitig aber zeigen sich diese Entwicklungen bisweilen in einem anderen Licht. Einerseits stellen sich die Entwicklungen, die bisher als rein national betrachtet wurden, jetzt als europäisch dar, d.h. als Vorläufer einer inzwischen als gemeinsam empfundenen Vergangenheit.[21] Andererseits weicht, was ihre letzten Entwicklungen betrifft, ihre bisherige Parallelität nun einem Zustand der Verflechtung und gegenseitigen Bedingtheit in einem neuen komplexen, eben europäischen Rechtsraum. Das bedeutet, dass man am Ende in einem einzigen, jedoch komplexen Raum arbeitet, genauer gesagt in einem durch den Begriff der Supranationalität geprägten Raum. Das alles könnte methodologisch bedeuten, dass die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet dazu berufen ist, die Form einer integrierten Vergleichung anzunehmen.[22]
7
Was die Identifikation des Forschungsgegenstands sowie die Methodik dieses Kapitels betrifft, so sei allgemein auf die Vorgaben der Herausgeber in der Einleitung zum vorhergehenden Band verwiesen.[23] Auf dieser Grundlage ist im Folgenden vor allem auf die Besonderheiten einzugehen, die eine möglichst kompakte Darlegung der vergleichenden Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa verlangt.
2. Der Ausgangspunkt: Die justiziable Verfassung
8
„Verfassungsgerichtsbarkeit ist jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten soll“: Diese klare Feststellung von Hermann Mosler vor nun bald sechs Jahrzehnten beim Heidelberger Kolloquium[24] soll auch als Ausgangspunkt der vorliegenden evolutiven Behandlung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa fungieren. Es gilt auch hier, der Zentralität des Begriffs „Gerichtsbarkeit“ die Oberhand zu geben, wo der Vollständigkeit halber alle möglichen historischen Erscheinungen der weitergehenden Kategorie des „Schutzes der Verfassung“ einbezogen werden könnten, von denen allerdings nicht wenige von der Idee der Gerichtsbarkeit weit entfernt sind.[25] Eine Darstellung der Entwicklung des gesamten Komplexes des Schutzes der Verfassung in vergleichender Perspektive wäre bestimmt nicht uninteressant, geht aber über die Grenzen dieser Arbeit hinaus. Deswegen wird hier konsequent und von Anfang an von der Behandlung der Vielfalt der Mechanismen des Verfassungsschutzes, die das vergleichende Recht in der Vergangenheit bietet, abgesehen.[26]
9
Zur weiteren Erläuterung des oben genannten Schlüsselbegriffs dieser Arbeit bietet sich die Verwendung des Terminus „Justiziabilität“ an.[27] Die knapp gefasste Aussage hierzu dürfte wohl lauten: „So viel Verfassungsgerichtsbarkeit wie justiziable Verfassung“. Dies bringt – zugestanden – einen weiten Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit mit sich, in dem Sinne, dass man, wo immer die Verfassung vom Richter unmittelbar „angewendet“ wird, schon im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit als gerichtliche Garantie der Verfassung wäre. Dies ist aber eine unvermeidliche Folge, wenn man mit diesem Begriff konsequent weiterarbeiten will.
10
Kurz gesagt impliziert eine justiziable Verfassung dreierlei. Sie setzt an erster Stelle ein rechtliches Verständnis der Verfassung voraus. Das ist eine unmittelbare Folge der elementaren Notion der Justiz, die per definitionem einen Rechtssatz voraussetzt, um gerichtlich zu entscheiden. Geht man von der Idee einer „politischen“ Verfassung aus, deren rechtliche Qualität in Zweifel gezogen wird, könnte diese als „politische“ Verfassung verteidigt werden, wobei dann aber andere Institute des Verfassungsschutzes in Betracht kämen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Begriff „Verfassungswidrigkeit“ im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, was ebenfalls