Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
Verfassung nimmt hier insbesondere das teils verbotene, teils umstrittene und teils gewagte richterliche Prüfungsrecht seinen Anfang.[39]
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Anders stellt sich die Frage nach dem Endpunkt dieser Entwicklung dar. Es wäre ohne weiteres möglich, sich dem „kurzen“ 20. Jahrhundert[40] anzuschließen, und so beim Wendejahr 1989 halt zu machen, ein unmissverständlich europäisches Jahr, auch in unserem Kontext. Die zwei darauffolgenden Jahrzehnte sind jedoch zu bedeutend, um sie bei einer evolutiven Behandlung beiseite zu lassen. Bei der Suche nach einem europarelevanten Datum bietet sich daher als Endpunkt das Jahr 2009 an.[41] Aus der 2. Hälfte dieses Jahres stammen einige Ereignisse von gestaltender Bedeutung für die jetzige Lage der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Auf der Seite der EU der am 1. Dezember in Kraft getretene Lissabon-Vertrag als die gegenwärtige Verfassung der Union, mit der indirekten Positivierung des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts sowie der Proklamierung der Charta der Grundrechte als primäres Recht der Union, ohne dabei den fortbestehenden Auftrag zum Beitritt der Union zur EMRK zu vergessen. Auf der Seite der Mitgliedstaaten, das am 30. Juni ergangene Lissabon-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das als plausibler Inbegriff der Jurisprudenz der nationalen Verfassungsgerichte zur Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten angesehen werden darf.[42]
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Was die innere Periodisierung dieser Entwicklung angeht, so kann man als erstes eine übrigens schon angekündigte summa divisio zwischen deren beiden Jahrhunderten vornehmen. Der Übergang von dem einen zum anderen Jahrhundert stellt eine Wendemarke im vorliegenden Zusammenhang dar, allerdings unter dem Vorbehalt, dass man sie auf das Jahr 1918 verschiebt. Zu diesem Zeitpunkt geht auch das lange und in unserem Zusammenhang langsame 19. Jahrhundert zu Ende. Mit ihm endet die Vorherrschaft eines schwachen Modells des Konstitutionalismus monarchischer Prägung in seinen verschiedenen Ausformungen, mit den entsprechenden Schwierigkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit, in Europa Wurzeln zu schlagen. In dieser Beziehung steht 1918 für eine klare Wende. Es kennzeichnet den Aufbruch in eine Epoche der Beschleunigung, die bis heute anhält. Aus all dem ergibt sich in unterschiedlicher Weise die Frage nach der inneren Periodisierung beider Epochen.
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In Bezug auf das 19. Jahrhundert ist festzustellen, dass es dieser langen Epoche des Konstitutionalismus in Europa an einschneidenden Jahresdaten in den verschiedenen Staaten zwar nicht mangelt, einige von ihnen auch mit übergreifender Relevanz. Dennoch ist keines von ihnen geeignet, eine klare Zäsur in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa sichtbar zu machen. Auch das Jahr 1848 nicht: Es hätte ein solches Datum sein können, hätte das Versprechen eines starken Konstitutionalismus in Europa nicht mit einer eklatanten Niederlage geendet.[43] Infolge dessen, und wie schon angekündigt, wird an Stelle einer chronologischen Behandlung des 19. Jahrhunderts eine Darstellung in Form einer Trias der erwähnten Entwicklungspfade der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Jahrhundert bevorzugt: Dem des richterlichen Prüfungsrechts, dem der Verfassungsstreitigkeiten zwischen öffentlichen Gewalten und dem der Gewährleistung der individuellen Rechte und Freiheiten.
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Anders stellt sich das Problem im beschleunigten 20. Jahrhundert dar. Hier lässt sich schon eine integrierte Darstellung der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf dem Kontinent vornehmen. Drei klar differenzierbare europäische Perioden können hier identifiziert werden. Als Erstes die Zwischenkriegszeit (1918–1939): Auch wenn andere Kontinuitäten in unserem Kontext nicht fehlen, sind dies vor allem die Gründungsjahre des schon erwähnten „europäischen“ Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit. Als eine genauso klar differenzierbare Periode erscheinen auch die vier Jahrzehnte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 1989. Sie entspricht der Epoche der tiefen Spaltung Europas in jeder Beziehung, auch verfassungsrechtlich, in „Ost“ (Mitteleuropa einbezogen) und „West“. Für den Westen sind es die Blütejahre der Verfassungsgerichtsbarkeit nach europäischem Muster. Die zwei Jahrzehnte zwischen 1989 und 2009 bilden schließlich eine dritte, leicht identifizierbare Periode: Für den westlichen Teil Europas gilt die Kontinuität. Für Mittel- und Osteuropa dagegen sind es die Jahre, in denen sich die Verfassungsgerichtsbarkeit, sehr überwiegend nach „europäischem“ Muster, ausbreitet.
5. Die Perspektive des europäischen Rechtsraums
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Im Rahmen dieser Prämissen ist zuletzt auf die Frage des Standpunkts, aus dem diese Arbeit vorgenommen wird, d.h. die schon erwähnte Perspektive des europäischen Rechtsraums, einzugehen. Dass der Begriff an sich neu ist, heißt nicht, dass er keine Geschichte hat bzw. braucht, vielleicht sogar das Gegenteil. Neue Rechtsbegriffe werden selten aus dem Nichts geboren, und wie sie nach Dogmatik und gelegentlich Rechtsvergleichung fragen, so fragen sie auch nach dem vergleichenden Rückblick.
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Unabhängig von den parallelen Entwicklungen zeigt Europa sich während dieser gesamten Epoche unmissverständlich auch als Ganzes: Man kann diesbezüglich von einem Profil Europas sprechen, was drei ausgewählte Phänomene veranschaulichen sollen. In chronologischer Reihenfolge zeigt sich Europa zuerst in Gegenüberstellung zu Amerika. Nicht umsonst fällt der alternative Konstitutionalismus, den Marbury v. Madison verbildlicht, mit den Anfängen einer europäischen Verfassungsentwicklung zusammen.[44] Dabei sind unter Amerika nicht nur die Vereinigten Staaten zu verstehen: Auch wenn ihr Einfluss auf Europa begrenzt war,[45] wird nach und nach die Bedeutung sowie die Fülle der Erscheinungsformen der Verfassungsgerichtsbarkeit in den lateinamerikanischen Staaten diesseits des Atlantiks erkannt.[46]
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In der Zeit danach, seit nun gerade hundert Jahren, zeigt sich Europa als der Bezugspunkt eines neuen, als „europäisch“ erkannten Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit:[47] Ein Verfassungsorgan neuer Prägung wird mit der Funktion einer „konzentrierten“ gerichtsförmigen Gewährleistung der Verfassung beauftragt. Auch wenn der Kontinent andere Formen dieser Verfassungsfunktion kennt,[48] so ist die geographische Bezeichnung doch berechtigt. Dieses neue Verfassungsorgan bleibt hegemon in Europa, so wie es als Exportprodukt als europäisch erkannt wird. Es wäre sicher mehr als übertrieben zu behaupten, dass dieses Modell Teil der Verfassungsidentität Europas ist. Dennoch, als verfassungsrechtliches Konstrukt ist es europäisch wie vielleicht kein anderes.
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Last but not least erscheint Europa als Ganzes als der Rechtsraum, in dem sich die Dämmerung des bedingungslosen Grundsatzes des Vorrangs der nationalen Verfassung abspielt. Mit Bezug auf diesen Grundsatz, dem eine Schlüsselposition in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa zukommt, steht der europäische Rechtsraum nun vor der Herausforderung, als solcher die Grundsätze der Verfasstheit gerichtsförmig zu bewahren. Die Verfassungsgerichtsbarkeit muss sich dieser Realität anpassen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Wie auch immer dies geschieht, es ist jedenfalls wieder ein wahres europäisches Kennzeichen auf globaler Ebene.
II. Ansätze der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Parallele Entwicklungen bis 1918
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Der Abschluss des ersten europäischen Revolutionszyklus (1789–1814) bedeutet nicht die Rückkehr zum Ancien Régime, insbesondere im vorliegenden Zusammenhang. Im Gegenteil steht das Jahr 1814 für einen „Neuanfang“, sowohl in Bezug auf die Zeit vor als auch nach dem 1789 eröffneten Zyklus. 1814 werden die Leges fundamentales und ihre gegebenenfalls vor 1789 vorgesehenen Garantien aufgegeben. Ähnliches gilt für die vielfältigen Verfassungserfahrungen des Revolutionszyklus, von denen nur eine vage Erinnerung bleibt. Geblieben ist, wenn auch in abgeschwächter Form, die Idee der Verfassung, die auch in dieser Periode den Anspruch erhebt, irgendwie garantiert zu werden. Unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung ist die Idee der Garantie der Verfassung ein Konzept, das ebenfalls erhalten bleibt. Dieser eher fragile Begriff der Verfassungsnormativität spiegelt sich in einer Vielzahl von isolierten, voneinander unabhängigen Instituten wider in Form von