Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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kann auf Vorgänger verwiesen werden, denn unterschiedliche Formen der petition of rights gab es seit jeher. Als solche können aus der ersten Zeit des Konstitutionalismus die individuellen Klagen wegen Verfassungsverstößen in der spanischen Cortes-Verfassung von 1812[93], oder die Verfassungsbeschwerde in der Verfassung Bayerns von 1818 erwähnt werden.[94] Typischerweise ist das Organ, an das diese Beschwerden gerichtet werden, aber kein Gericht, sondern die jeweilige letztendlich verantwortliche repräsentative Versammlung. Was die eigentliche, von einem Gericht zu entscheidende Verfassungsbeschwerde betrifft, so ist zu betonen, dass es sich auch hierbei um einen autonomen Pfad der Entwicklung handelt, der parallel zu den vorherigen und insbesondere zur gerichtlichen Gesetzeskontrolle verläuft. Zwar kann man letztlich auch im Wege des richterlichen Prüfungsrechts den Schutz eines Grundrechts erreichen: Aber verfahrenstechnisch handelt es sich dabei immer um eine „inzidente“ Kontrolle, während es sich bei der Verfassungsbeschwerde um ein Klageverfahren handelt, das dem Einzelnen zur unmittelbaren Verfügung steht. Kurz gesagt, das den Bürgern zur Verfügung gestellte Beschwerdeverfahren ist das Rückgrat der Institution.

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      Die Verfassungsbeschwerde dieser Zeit richtet sich prinzipiell gegen die Exekutive und allgemein gegen die Verwaltung, nicht also gegen den Gesetzgeber. Hier wird die schon erwähnte Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit relevant. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit schließt natürlich den Schutz der Grundrechte gegenüber Verwaltungshandlungen nicht aus, ganz im Gegenteil.[95] Daher wird die Unterscheidung je nach Institutionalisierungsgrad dieses Rechtsschutzes erleichtert: Wenn eine spezielle Gerichtsbarkeit, in Form eines besonderen Organs oder zumindest in funktional/prozeduraler Form, zur Gewährleistung der Rechte besteht, kann man umso leichter von „Verfassungsgerichtsbarkeit“ sprechen, auch wenn sie gegen Verwaltungshandlungen gerichtet ist.

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      An dieser Stelle darf nicht versäumt werden, auf das älteste und im Bereich der Verfassungsbeschwerde unter dem berühmten nomen iuris „writ of habeas corpus“ bestehende Instrument zumindest zu verweisen, das par excellence der gerichtlichen Garantie der persönlichen Freiheit diente und seinen Ursprung in England mit der verfassungsrechtlichen Anerkennung im Habeas Corpus Act von 1679 hatte. Seine Bedeutung geht weit über einen schlichten „Verfassungsexport“ hinaus. Es lässt sich kein Verfassungsinstitut finden, das damit in seiner Bedeutung für die Kultur der Verfassungsrechte vergleichbar wäre.[96]

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      Die ersten systematischen Bemühungen, einen gerichtlichen Schutz der Grundrechte im europäischen Raum zu schaffen, entstehen in einem schon erwähnten Umfeld, nämlich im Revolutionszyklus 1848–1849. Im Zusammenhang mit der Einrichtung eines Reichsgerichts in der Paulskirchenverfassung[97] (sowie des Obersten Reichsgerichts im österreichischen Kremsier-Entwurf) wurde als eine seiner Kompetenzen vorgesehen, dass Einzelpersonen das Gericht zum Schutz der ihnen von der Verfassung zuerkannten Rechte anrufen können.[98] In Deutschland muss man auf Bundesebene praktisch bis zur gesetzlichen Regelung der Verfassungsbeschwerde unter dem Grundgesetz warten, um Formen der Individualbeschwerde zu beobachten. Die Reichsverfassung von 1871 enthält nicht einmal eine Erklärung der Grundrechte, die nur in den Verfassungen der Staaten vorhanden ist, welche ihrerseits, bis auf einige Ausnahmen, jedoch kein spezifisches Rechtsmittel enthalten. Ganz anders stellt sich die Lage in Österreich in der Verfassung vom 21. Dezember 1867 dar.

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      Teil dieser Dezemberverfassung ist das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger.[99] Das bereits erwähnte und gleichzeitig geschaffene „Reichsgericht“ ist zuständig, über Beschwerden von Einzelpersonen wegen Verletzung der in der Verfassung anerkannten Rechte zu entscheiden. Es bestand Einigkeit darüber, dass die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Verletzung dieser Rechte dem Reichsgericht den Charakter eines wahren „Verfassungsgerichts“ verleiht.[100] Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind die Urteile über den Schutz der Rechte der nationalen Minderheiten in Sprach- und Schulangelegenheiten, für die die verfassungsrechtliche Anerkennung der unmittelbaren Wirkung von besonderer Bedeutung war.[101] Schließlich ist zu erwähnen, dass die nur deklaratorische oder feststellende Wirkung dieser Urteile nicht verhindert hat, dass sie ganz überwiegend befolgt wurden.[102]

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      Die andere relevante Institution dieser Periode im Bereich der Rechtsbehelfe zum Schutz der Grundrechte ist die „staatsrechtliche Beschwerde“ (récours de droit public) vor dem Schweizer Bundesgericht.[103] Fast zeitgleich mit Österreich und unter dieser Bezeichnung wird dem Bundesgericht in der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 die Entscheidung über Beschwerden von Personen gegen Verletzungen der Individualrechte durch Bund und Kantone übertragen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Bundesgericht in erster Linie das oberste Gericht des Bundes ist, das gegenüber allen Gerichtszweigen zur einheitlichen Auslegung des Bundesrechts zuständig ist. Die Ausübung der Kompetenz zur Rechtsauslegung verleiht ihm die Eigenschaft eines Verfassungsgerichts im funktionalen Sinne des Wortes. Vor allem geht es hierbei um die Auslegung der „Verfassungsrechte“, ein Begriff, dessen konkreter Inhalt nicht unmittelbar aus der Bundesverfassung hervorgeht und der vom Bundesgericht kreativ interpretiert wird. Es war von Anfang an klar, dass das Konzept auch die von den kantonalen Verfassungen anerkannten Rechte umfasste. Das Bundesgericht erweiterte den Kreis der von ihm anerkannten und geschützten Rechte im Laufe des 20. Jahrhunderts.[104]

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      Dieser Abschnitt kann nicht ohne Erwähnung eines so charakteristischen Teils der französischen Verfassungskultur wie die libertés publiques sowie deren Schutz durch die ordentlichen oder administrativen Gerichte während der langen Gültigkeitsdauer der Verfassung der Dritten Französischen Republik abgeschlossen werden.[105] Keines der Gesetze, die diese Verfassung von 1875 ausmachen, befasste sich mit den Grundrechten. Dennoch haben die libertés publiques in verschiedenen Parlamentsgesetzen der Dritten Republik Ausdruck gefunden.[106] Diese Gesetze gehören formell zwar nicht zum Verfassungsrecht, haben aber den hohen Rang, der den Parlamentsgesetzen dieser Periode zukommt. Zwar haben diese Parlamentsgesetze keine passive Kraft gegenüber späteren Parlamentsgesetzen, aber hiervon abgesehen werden die in diesen Gesetzen geregelten Freiheiten, auch ohne spezifischen Rechtsbehelf, durch das republikanische Rechtssystem gewährleistet.

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      Die bisher behandelte Frage galt eindeutig nicht der politischen Relevanz der Verfassung im europäischen 19. Jahrhundert, eine Frage, die sich selbst beantwortet. Vielmehr ging es um ihre rechtliche und vor allem ihre gerichtliche Relevanz, d.h. um die gerichtlich garantierte Verfassung. So verstanden, ist hier wieder auf den Begriff „Fragmentierung“ zurückzugreifen. Diesmal aber nicht im Sinne einer „frakturierten“ Landschaft, d.h. einer Vielzahl von Einzelteilen, die sich unabhängig voneinander entwickeln: Der Begriff „Fragmente“ soll hier der Beschreibung einiger weniger Institute der Anfänge der Verfassungsgerichtsbarkeit dienen.

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      Trotz mancher Forderungen der liberalen Doktrin erweist sich das richterliche Prüfungsrecht weder explizit noch implizit als vorhanden, und daran ändert auch eine sporadisch das Prüfungsrecht bejahende Judikatur nichts. Eine Ausnahme gilt nur für die Kontrolle der „untergeordneten“ Gesetzgeber (Kronländer, Kantone), unter Ausschluss der Kontrolle des Bundes- oder vergleichbaren Gesetzgebers. Die Lösung der Verfassungsstreitigkeiten ihrerseits, sowohl in Form von Organstreitigkeiten wie in der von Bundesstreitigkeiten, werden meistens politischen Organen anvertraut. Nur der Schutz der Grundrechte gegen Verwaltungsmaßnahmen erfährt in Österreich und in der Schweiz solide Fortschritte. Das reicht jedoch nicht aus, um die Gesamtschau zu korrigieren: Auch wenn die Normativität der Verfassung prinzipiell anerkannt ist, erscheint die gerichtliche Gewährleistung derselben in Form von losen Fragmenten.

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