Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


Скачать книгу
in dem Verfassung und Gesetz ihren eigenen Platz finden.[147] Es ist kein Zufall, dass das System in zwei verschiedenen Staaten, deren Rechtskultur jedoch eng verwandt ist, gleichzeitig entsteht. Der „Brutplatz“ ist für Österreich und die Tschechoslowakei derselbe. Und die Professoren sind in beiden Fällen, so wie genii loci, gleichermaßen präsent.

      84

      

      Knapp und kurz: dies ist der Kelsenian moment. Jedoch nicht so sehr, weil Hans Kelsen der unbestrittene Vater der Erfindung wäre, sondern weil er wie sonst keiner ihre theoretische Seele verkörpert. Seine anfängliche Antipathie für eine Gleichsetzung von Bundes- und Landesrecht bezüglich deren Kontrolle ist dabei zweitrangig: Er ist es, der der Erfindung theoretische Form gibt und der mitunter die praktische Verantwortung dafür trägt.[148] Mit Hans Kelsen hört die Idee der Normenkontrolle auf, eine dem Gesetz auferlegte Existenzbedingung darzustellen, um sich in eine dem Gesetz innewohnende Eigenschaft zu verwandeln.

      85

      Die erste Republik Österreich legt in der Zwischenkriegszeit das Hauptmodell eines europäischen Systems zur Normenkontrolle, wie es soeben dargestellt wurde,[149] vor. Der Verfassungsgerichtshof ist für die Hauptkategorien der Verfassungsgerichtsbarkeit, Normenkontrolle, Verfassungsstreitigkeiten und Schutz der Grundrechte, zuständig. Im Folgenden wird es hier in erster Linie um die Normenkontrolle gehen, ohne jedoch die anderen Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofs ganz zu vergessen.[150]

      86

      Was die Normenkontrolle betrifft, so wird das Modell im Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, im Wesentlichen in seinem Artikel 140, festgelegt, wobei der Weg dorthin lang und komplex ist.[151] Die heutige Republik Österreich, als „Deutsch-Österreich“ (1918–1920) zunächst geboren, unternimmt im Januar 1919 die Schaffung eines „Verfassungsgerichtshofs“, dem ersten überhaupt mit diesem Namen, hauptsächlich mit vom ehemaligen Reichsgericht übernommenen Zuständigkeiten, insbesondere die Individualbeschwerde. Seit März desselben Jahres übt er darüber hinaus eine präventive Kontrolle über die Landesgesetze aus. Die Ausarbeitung des Kernelements des normativen Ensembles der österreichischen Verfassung, das Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, durchläuft einen komplexen Verhandlungsprozess zwischen Bundesregierung und Landesbehörden, bei dem die Frage nach der jeweiligen Stellung der Bundes- und Ländergesetze besondere Bedeutung erlangt. Das Endergebnis ist die Gleichstellung der beiden, was die Normenkontrolle betrifft.

      87

      

      In Anbetracht des Vorherigen ist es leicht verständlich, dass das Modell im Wesentlichen im Hinblick auf die Einhaltung der normativen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern konzipiert wurde. Die Grundrechte haben bezüglich der Kontrolle von Gesetzen keine allzu große Rolle gespielt. Nicht von ungefähr hatte man im Bereich der Grundrechte überhaupt nicht innovieren wollen und beschlossen, die im Grundgesetz von 1867 enthaltene Erklärung der Grundrechte als Teil des neuen Verfassungswerks in Kraft zu lassen. Was die Struktur des Verfassungsgerichtshofs anbelangt, so wird er von einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten sowie aus 12 Richtern und sechs Stellvertretern zusammengesetzt.[152]

      88

      Funktionell geschieht die Normenkontrolle immer konzentriert und meistens abstrakt. Der Gerichtshof bezieht dabei auch die Kontrolle aller Gesetze mit ein, die im betroffenen Verfahren als entscheidungsrelevant erscheinen. Das Urteil ist allgemeinverbindlich, aber wieder mit einer gewichtigen Nuance: es wirkt immer pro futuro oder ex nunc. Das heißt, dass eventuelle Erklärungen der Verfassungswidrigkeit die Aufhebung und nicht die Nichtigkeit des Gesetzes mit sich bringen. Somit bleiben die bis zum Zeitpunkt der Entscheidung eingetretenen Wirkungen des verfassungswidrigen Gesetzes erhalten,[153] wobei sogar die Möglichkeit besteht, die Aufhebung des Gesetzes zunächst für sechs Monate und später bis zu zwölf Monate aufzuschieben.[154] Eine österreichische Besonderheit ist die schon beim alten Reichsgericht vorhandene konzentrierte Prüfung der Verordnungen, die letzten Endes so wie die Gesetze dem Verwerfungsmonopol des Verfassungsgerichtshofs unterliegen.[155]

      89

      Was die Entwicklung des Modells betrifft, so ist auf drei Daten hinzuweisen. 1925 wurde es einer ersten Reform unterzogen, indem deklaratorische Feststellungen seitens des Verfassungsgerichtshofs eingeführt wurden mit der Besonderheit, dass die Entscheidung den formalen Charakter eines Rechtssatzes genießt, so dass sie als authentische Auslegung der betroffenen Verfassungsvorschrift fungiert.[156] Eine zweite Reform im Jahr 1929 brachte einen überwiegend technischen und einen eindeutig politischen Aspekt mit sich. Zum einen wurde eine bescheidene Form der konkreten Normenkontrolle eingeführt, deren Impuls nur dem Obersten Gerichtshof und dem Verwaltungsgerichtshof zustand. Zum anderen wurden Wahlmodus und Status der Gerichtsmitglieder dahin gehend geändert, dass sie nicht mehr auf Lebenszeit ernannt und von der Exekutive bestellt wurden. Aus Protest gegen diese Neuerungen trat Hans Kelsen als Gerichtsmitglied zurück. Schließlich erfolgt 1933 im weitergehenden Kontext des Niedergangs der Demokratie und des Rechtsstaates in Österreich die „Ausschaltung“ des Gerichtshofs durch Einmischung der Exekutive im Wege von Notverordnungen, in deren Folge dem Gerichtshof seine Entscheidungsfähigkeit entzogen wurde.[157]

      90

      Die Verfassung der ersten Tschechoslowakischen Republik vom 29. Februar 1920, aus einem kurzen „Einführungsgesetz“ und einer „Verfassungscharta“ zusammengesetzt,[158] folgt dem österreichischen Modell, indem sie ein „Verfassungsgericht“ vorsieht, dessen Struktur und Befugnisse durch ein gleichzeitig in Kraft getretenes Gesetz geregelt wurden. Es ist, wenn auch nur um einige Monate, die erste europäische Verfassung, die eine Normenkontrolle einführt, die alle Gesetze unbeschränkt betrifft.[159] Als neuer Staat wurde die Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 durch den Zusammenschluss von früher zu beiden Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörenden Gebieten geboren, deren nationale Identität auf einem seit dem vorigen Jahrhundert aktiven tschechischen Nationalismus beruhte. Die Verfassung schafft eine unitarische parlamentarische Republik, mit Ausnahme der für das Gebiet Ruthenien vorgesehenen politischen Autonomie.[160] Die Nationalversammlung ist bikameral gestaltet, mit einer Abgeordnetenkammer und einem Senat sowie einer Ständigen Deputation mit gesetzgebenden Zuständigkeiten während der Zeit außerhalb der Sitzungsperioden.

      91

      Die Verfassung überträgt dem Verfassungsgericht eine konzentrierte, strikt regulierte Normenkontrolle. Seine einzige Aufgabe ist die Prüfung der Gesetze der Nationalversammlung und der Gesetze Rutheniens, plus, von Amts wegen, der Notstandsgesetzgebung der Ständigen Deputation. Die Funktionsfähigkeit der ganzen Regelung wurde durch die begrenzte Zahl der Antragsberechtigten von Anfang an beschränkt: Die drei gesetzgebenden Versammlungen sowie das Plenum jedes der drei höchsten Gerichte. Der Gerichtshof, mit Sitz in Brno und seit 1921 tätig, bestand aus sieben, für einen Zeitraum von zehn Jahren ernannten Mitgliedern.

      92

      

      Was die Entwicklung dieses Gerichtshofs betrifft, so führten ein Ereignis und ein „Nicht-Ereignis“ zu seiner völligen Unwirksamkeit. Das Nicht-Ereignis war der Umstand, dass die von der Verfassung vorgesehene Autonomie Rutheniens nie zustande kam. Damit war auch prinzipiell ausgeschlossen, dass das Verfassungsgericht seine Hauptaufgabe erfüllen konnte, nämlich die Beilegung von Konflikten gesetzgeberischen Charakters zwischen der Nationalversammlung und Rutheniens gesetzgebender Versammlung. Außer in einem einzigen Fall sahen die Obersten Gerichte der Republik ihrerseits keine Notwendigkeit, von ihrer Befugnis zur Einleitung einer abstrakten Kontrolle Gebrauch zu machen.

      93

      Das Ereignis, das das Schicksal des Gerichtshofs endgültig besiegelte, betraf seine einzige andere Zuständigkeit, die


Скачать книгу