Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


Скачать книгу
Jahr 1918 war Zeuge der Gründung einer Reihe neuer Staaten, bzw. der Wiederherstellung ihrer vor langer Zeit verlorenen Unabhängigkeit. Sie sind fast ohne Ausnahme aus dem Zerfall der Kontinentalreiche entstanden.[123] Ohne Frage brauchten diese Staaten Verfassungen, und nachdem einmal die Zeit des Imports ausländischer Dynastien[124] überwunden war, wird ihre Staatsform ohne Ausnahme republikanisch gestaltet. Es sind Verfassungen, die viel Kontinuität und wenig Neues zu unserer Frage enthalten. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen wird im Wesentlichen auf die Frage par excellence des letzten Jahrhunderts reduziert, nämlich die Befugnis des Richters, ein verfassungswidriges Gesetz unangewendet zu lassen. Die Antworten sind unterschiedlich, haben aber zumindest eines gemeinsam: Das Schweigen der Verfassung nimmt in dieser Hinsicht eindeutig ab.

      74

      Ein Beispiel[125] für ein ausdrückliches Verbot der gerichtlichen Kontrolle ist Polen.[126] Rumänien hingegen, der damaligen französischen Debatte folgend, entscheidet sich für eine in den Händen des Obersten Gerichts liegende inzidente Normenkontrolle mit inter partes Wirkung.[127] Litauen beschränkt sich darauf, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Verordnungen ausdrücklich vorzusehen, was als implizites Verbot der Gesetzeskontrolle verstanden werden kann.[128] Die Verfassung der neuen Republik Irland setzt die ausschließliche Zuständigkeit des High Court für die Prüfung der Gesetze fest.[129] Aber das ist im Grunde genommen alles.

      75

      Zwischen alt und neu angesiedelt, verdient Weimar, diesmal als Summe der Reichsverfassung und der sich daraus entwickelnden Verfassungswirklichkeit verstanden, gesonderte Behandlung. Die am 11. August 1919 verabschiedete Reichsverfassung ist vor allem alt, indem sie zur Frage des richterlichen Prüfungsrechts schweigt. Aber sie ist zugleich modern in dem Sinne, dass sie durch verschiedene Vorkehrungen, sowohl de lege lata als de lege ferenda, ständig die konzentrierte und abstrakte Normenkontrolle verfolgt. Zuletzt ist sie eigenartig, indem sie zum Schutz der Verfassung auf einen an sich unerwarteten Protagonisten, den Reichspräsidenten, zurückgreift. Alles in allem bietet die erste deutsche republikanische Verfassung ein sehr komplexes Panorama, in dem alle schon bekannten Faktoren der Verfassungsgerichtsbarkeit zusammenkommen: Parlamentarische Verfassungsdebatten, Institute der Verfassungskonflikte, Feststellung des richterlichen Prüfungsrechts aus eigener Hand sowie die ganze Zeit hindurch anhaltende Diskussionen auf wissenschaftlicher Ebene.[130]

      76

      Das allgemeine Augenmerk in all diesen Jahren betrifft den Aspekt, zu dem die Verfassung gerade schweigt, das mehrmals erwähnte richterliche Prüfungsrecht.[131] Diesmal handelt es sich um ein völlig bewusstes Schweigen des Verfassunggebers, und zwar als Folge der Schwierigkeiten, sich in dieser Frage zu einigen.[132] Die gesamte Lehre wird im Laufe der Zeit Stellung zu der Frage nehmen.[133] Das Reichsgericht selbst wird es sein, das[134] in der höchst sensiblen Rechtssache des Aufwertungsgesetzes mit Urteil vom 5. November 1925, allerdings bei Aufrechterhaltung des Reichsgesetzes, das richterliche Prüfungsrecht mit klaren Worten proklamierte.[135]

      77

      Das Parlament reagiert auf diesen richterlichen Handstreich mit dem Versuch, eine konzentrierte und abstrakte Kontrolle der Reichsgesetze einzuführen. Der sogenannte Külz-Entwurf sah vor, den Staatsgerichtshof sowohl mit einer präventiven als auch einer repressiven Kontrolle der Reichsgesetze zu beauftragen. Der Entwurf war über drei Jahre lang Gegenstand umfangreicher Diskussionen innerhalb und außerhalb des Reichstags, bis man ihn letzten Endes fallen ließ. Er bildet dennoch den bedeutendsten Versuch Weimars, ein Modell der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen.[136]

      78

      Unabhängig davon enthält die Verfassung, wie bereits erwähnt, einige ausdrückliche Bestimmungen zu dieser Problematik. Art. 13 der Reichsverfassung bietet in seinen beiden Absätzen eine Kombination aus diffuser Kontrolle der Landesgesetze[137] und einer konzentrierten und abstrakten Kontrolle derselben vor einem in der Reichsverfassung nicht weiter präzisierten obersten Gericht, das kraft späteren Gesetzes hauptsächlich das Reichsgericht sein wird.[138] Ungeachtet der Schwierigkeiten, die diffuse und konzentrierte Gesetzeskontrolle zu kombinieren, wird die Modernität der zweiten Variante zu Recht hervorgehoben.[139]

      79

      Parallel dazu, in Art. 19 der Reichsverfassung, wird einem Staatsgerichtshof die Zuständigkeit zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen dem Reich und einem Land und die Beilegung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Länder, in denen kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, zuerkannt. Aus der Perspektive seiner Zusammensetzung, die Mehrheit seiner Mitglieder gehört dem Reichsgericht an, erscheint die Selbstständigkeit dieses neuen obersten Gerichts jedoch fragwürdig. Von unbestrittener Relevanz war die nicht geregelte Frage, ob die Prüfung von Reichsgesetzen im Wege dieses Verfahrens praktikabel war. Wiederum ist es ein Urteil aus dem Jahr 1927, das die Frage in positivem Sinne löst.[140]

      80

      Aber erst der Konflikt zwischen Preußen und dem Reich im Jahre 1932 legt die objektiven Grenzen einer richterlichen Lösung akuter politischer Konflikte offen. Der Konflikt betraf eine vom Präsidenten der Republik auf der Grundlage von Art. 48 der Verfassung erlassene Notverordnung, mit der der Reichskanzler zum Reichskommissar in Preußen mit der allgemeinen Befugnis ernannt wurde, die Regierung Preußens bei der Ausübung ihrer Aufgaben zu ersetzen.[141] Der Staatsgerichtshof antwortete mit einer verfassungskonformen Auslegung der Notstandsgesetzgebung, die keine der Parteien letztendlich befriedigte.[142]

      81

      „Nimmt der Gesetzgeber die Regelung der Kontrolle der Gesetzgebung in die Hand, so werden für ihn bezüglich der Gestaltung dieser Kontrolle ausschließlich staatspolitische Zweckmäßigkeitsgründe leitend sein müssen, er ist frei über sich selbst und darf sich nicht an eine der oben angegebenen Konstruktionen gebunden fühlen“.[143] Versteht man den Verweis auf den Gesetzgeber als Verweis auf den Verfassungsgesetzgeber, so drückt dieses Zitat die Eigenart der europäischen Option für eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit in exemplarischer Weise aus. Es ist die Option für eine neue Funktion, die der Verfassunggeber frei gestaltet: die des negativen Gesetzgebers. Das ist in der Tat die eigentliche Neuerung, die zwei junge mitteleuropäische Republiken mitbringen: eine neue Verfassungsfunktion für ein neues Verfassungsorgan. Die Normenkontrolle wird also durch einen disziplinierten Modus sowohl im funktionalen wie im organischen Sinne organisiert, und das nicht zuletzt, weil in diesem System der Schutz der Verfassung mit dem Schutz des Parlamentsgesetzes einhergeht.[144] Das alles setzt die Definition des Kontrollorgans und die Bestimmung der in Frage kommenden normativen Größen voraus, d.h., des Prüfungsmaßstabs und des normativen Prüfungsadressaten, die Entscheidung über die Antragsberechtigten und über die Verfahrensvarianten, und last but not least die jeweilige Wirkung der Urteile. Kurz gefasst, es geht darum, ein verfassungsrechtliches System zur Normenkontrolle zu schaffen.[145] Und es wird die Verfassung selbst sein, die, häufig mittels ihrer Ergänzung durch ein ad hoc Gesetz, das System in Gang setzt.[146]

      82

      So werden eine Reihe von Begrifflichkeiten geschaffen, wobei bisweilen alte Begriffe neu besetzt werden: konzentrierte versus diffuse Normenkontrolle, abstrakte versus konkrete Normenkontrolle, präventive (a priori) versus repressive (a posteriori) Normenkontrolle, inter partes versus erga omnes Wirkung des Urteils, pro praeterito versus pro futuro Wirkung desselben. In einer Kombination von substantiellen und prozeduralen Elementen entsteht aus diesen Kategorien ein prozedurales Recht der Normenkontrolle, das später als willkommenes Raster der Rechtsvergleichung dienen wird.

      83

      

      All dies wäre nicht möglich gewesen, schon gar nicht mit der gleichen Sicherheit in der Ausgestaltung, ohne die Arbeit


Скачать книгу