Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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      Die Nachkriegszeit kann für unsere Belange mit der Aufnahme der Tätigkeit der Corte costituzionale 1956 als abgeschlossen angesehen werden. Seitdem und für anderthalb Jahrzehnte erscheinen die drei erwähnten Verfassungsgerichte als die alleinigen Repräsentanten der konzentrierten Normenkontrolle in Europa. Während dieser Zeit, in der die Verfassungsgerichtsbarkeit more austriaco sich in diesen Staaten festigt, sind sonst wenige Neuerungen zu verzeichnen. So werden Anfang der 1960er Jahren am Rande des europäischen Raums einige Verfassungsgerichte fast gleichzeitig und mit begrenztem Erfolg ins Leben gerufen: Das ist der Fall für Zypern, die Türkei und Jugoslawien. 1960 wurde in der jungen Republik Zypern ein „Constitutional Supreme Court“ geschaffen,[190] so wie auch im folgenden Jahr das Verfassungsgericht der weniger jungen Republik Türkei.[191] 1963 wurde in die jugoslawische Verfassung ein Verfassungsgericht auf Bundesebene in Koexistenz mit Gerichten gleicher Art in den sechs föderativen Republiken[192] aufgenommen. Aus verschiedenen Gründen sind all dies Gerichte, die wenig Einfluss auf die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa hatten, die aber dennoch dazu beitrugen, dass die konzentrierte Normenkontrolle als die normale Variante der Gewährleistung der Verfassung auf dem Kontinent angesehen wurde.

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      Die eigentliche Neuerung in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa bildet allerdings der Conseil constitutionnel der 5. Französischen Republik. Mit ihm wird Europa Zeuge der Einsetzung und Entwicklung eines eigenartigen Verfassungsorgans, dem es im Laufe eines komplizierten und langen Prozesses erstmalig in der Verfassungsgeschichte Frankreichs gelingt, ein in Kraft getretenes parlamentarisches Gesetz für verfassungswidrig und nichtig zu erklären.[193]

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      Noch vor ihm und unter dem Namen Comité constitutionnel wurde 1946 ein Organ in der Verfassung der 4. Französischen Republik mit der Aufgabe betraut, der Eventualität eines verfassungswidrigen Gesetzes zu begegnen. Mit einer Zusammensetzung politischer Natur war dieses Comité constitutionnel dazu konzipiert, in kurzer Frist über die Verfassungsmäßigkeit eines noch nicht in Kraft getretenen Gesetzes zu entscheiden. Im Endeffekt und aus der heutigen Perspektive war dieses Comité constitutionnel, das ohne praktische Wirkung blieb, kaum mehr als ein eleganter Ausweg, auf die anhaltende Frage des Umgangs mit verfassungswidrigen Gesetzen eine elementare Antwort zu geben.[194]

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      Mit der Verfassung der Fünften Republik vom 4. Oktober 1958 begibt Frankreich sich auf den langen Weg zu einem Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, das zwar immer noch eigenartig ist, aber dennoch heutzutage mit anderen Varianten der konzentrierten Normenkontrolle vergleichbar ist.[195] Mit einer markant politischen Zusammensetzung und der Ausübung einer bloß präventiven Normenkontrolle war der Conseil constitutionnel zum Zeitpunkt seines Entstehens kaum als „Verfassungsgericht“ zu bezeichnen. Die Kategorie der Verfassungswandlung ist hier völlig treffend, um den Prozess zu beschreiben, der zu seiner Annäherung an die gewohnten Gerichte mit konzentrierter Gerichtsbarkeit führt.[196] Sechs Jahrzehnte später hat Frankreich immer noch, wenn auch oft geändert, dieselbe Verfassung und – organisch betrachtet – denselben Conseil constitutionnel. Hier interessieren insbesondere die Verfassungsänderungen, die sich auf ein Verfassungsorgan beziehen, das sich – ohne seinen Namen zu ändern – zu einem Akteur der Verfassungsgerichtsbarkeit auf europäischer Ebene entwickelte.

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      Die Etappen in der Entwicklung und Wandlung des Conseil constitutionnel lassen sich wie folgt signalisieren: Das grundlegende Urteil vom 16. April 1971 stellte die Unvereinbarkeit eines Gesetzentwurfs mit dem Gesetz zum Vereinsrecht als Teil des sogenannten bloc de constitutionnalité fest. Damit entfernte sich der Conseil constitutionnel von seiner bis dahin – im Rahmen der Normenkontrolle – einzigen Funktion als Garant der Abgrenzung zwischen den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen des Parlaments und der Regierung.[197] Kaum drei Jahre später wird die Verfassung geändert, um die Antragsberechtigung der parlamentarischen Minderheit in Bezug auf die immer noch nur präventive Normenkontrolle zu ermöglichen. So verliert diese Art der Normenkontrolle ihren ursprünglichen Charakter als Schiedsgericht zwischen Verfassungsorganen, um der parlamentarischen Minderheit eine effektive Waffe gegen eventuell verfassungswidrige Gesetze in statu nascendi zu verleihen.[198] Das „Überschreiten des Rubikons“, nämlich die konzeptionelle und praktische Annahme der Möglichkeit der Nichtigerklärung eines in Kraft getretenen verfassungswidrigen Gesetzes, geschieht allerdings erst 2008, als das neue Verfahren der konkreten Normenkontrolle, die question prioritaire de constitutionnalité, in die Hände der höchsten Gerichte, des Conseil d’État und der Cour de cassation, gelegt wird.[199]

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      Das letzte Ereignis, das auf kontinentaler Ebene in dieser Periode zu verzeichnen ist, ist die Gründung der „Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte“, die 1972 in der Stadt Dubrovnik unter der heute als unerwartet anmutenden Schirmherrschaft des Verfassungsgerichtshofs des ehemaligen Jugoslawien zusammentraf, und seitdem regelmäßig alle drei Jahre stattfindet. Kaum vier Gerichte nahmen an dem ersten Treffen teil.[200] Heute zählt die Konferenz, mit rotierendem Sitz am Gerichtshof, der die nächste Konferenz organisiert, 40 Gerichte, die zwar nicht alle den Namen „Verfassungsgericht“ tragen, aber doch alle eine Kompetenz zur Gesetzesprüfung der Sache nach ausüben. Die Rolle dieses europäischen Forums als Ort des Dialogs auf höchster Ebene zwischen den Verfassungsgerichten ist nicht zu unterschätzen. Es ist interessant festzustellen, wie sich auch höchste Gerichte, die, ohne den Namen zu tragen, verfassungsgerichtliche Funktionen ausüben, nach und nach der Konferenz angeschlossen haben. Schon 1978 war das schweizerische Bundesgericht als erstes dieser Art in die Konferenz aufgenommen worden, gefolgt seitdem von anderen.[201]

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      Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit beschleunigt sich von Neuem in den 1970er Jahren. Im Wege unterschiedlicher Entwicklungen geschieht in diesen Jahren die Umwandlung der drei von Diktaturen regierten südeuropäischen Staaten in rechtsstaatliche Demokratien. Als erstes beendet Griechenland 1974 eine sieben Jahre dauernde Militärdiktatur. Aber es sind vor allem die beiden iberischen Staaten, Portugal (1974) und Spanien (1975–1978), die mit der fast gleichzeitigen Überwindung der langen Salazar- und Franco-Diktaturen den Ausschlag geben. Damit kann sich Westeuropa als Ganzes endlich als ein konstitutioneller Raum präsentieren. Für alle drei südeuropäischen Staaten beginnt eine Periode der Verfassunggebung und der Integration in den entstehenden europäischen Rechtsraum. Letzteres geschieht erstmals mit dem Beitritt bzw. der Wiederkehr zum Europarat und zur Europäischen Menschenrechtskonvention, sowie Jahre später (1981 und 1986) mit dem Beitritt zu den damaligen Europäischen Gemeinschaften. Innerstaatlich ist es für alle drei die Zeit, das jeweilige Modell der gerichtlichen Garantie der Verfassung festzulegen. Mit der Wiedereinsetzung eines Modells der diffusen Normenkontrolle erscheint Griechenland in einer Landschaft wachsender konzentrierter Normenkontrolle eher als Ausnahme. Denn auf kontinentaler Ebene sind es Spanien und Portugal, die die Waagschale zugunsten des Systems more austriaco neigen. Mit dem Präzedenzfall der Verfassung von 1931 und der geplanten Dezentralisierung war die spanische Option für die konzentrierte Normenkontrolle voraussehbar. Anders war der Fall Portugals mit seiner Tradition der diffusen Normenkontrolle und der prinzipiellen Beibehaltung der unitären Republik.

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      Die griechische Verfassung von 1975 bleibt einer nationalen Tradition der „diffusen, inzidenten und konkreten“ gerichtlichen Normenkontrolle treu.[202] Die Besonderheit des


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