Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

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nicht im Kontext einer Nachkriegszeit, sondern in dem des abrupten Zusammenbruchs eines politischen und sozioökonomischen Modells mit Epizentrum in Moskau.[239]

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      Obwohl Mitglieder des Europarats und des Systems der EMRK, werden sowohl die Russische Föderation als auch die Staaten des Kaukasus hier weitgehend außer Betracht bleiben.[240] Die Aufmerksamkeit soll sich stattdessen auf die Staaten der sogenannten „Visegrad-Gruppe“ sowie die Baltischen Republiken und teilweise den Balkan richten, kurzum die europäischen Staaten, die sukzessiv 2004, 2007 und 2011 der Europäischen Union beigetreten sind, wobei der besondere Fall Deutschlands nicht zu vergessen ist.[241] Manche dieser Republiken hatten schon zum Zeitpunkt der Wende Verfassungsgerichte, die, obwohl in der Theorie dazu berufen, das Fortbestehen der jeweiligen politischen Systeme zu garantieren, in der Praxis eine relevante Rolle bei der Entwicklung zur Rechtsstaatlichkeit spielen sollten. Fast alle diese Republiken haben inzwischen im Rahmen ihrer neuen Verfassungen[242] für das System der konzentrierten Normenkontrolle optiert.

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      Die Geburt dieser neuen europäischen Verfassungsgerichte erfolgte nicht uniform. In manchen Fällen geschah dies in einer Weise, die sich nicht wesentlich von anderen, bereits dargelegten nationalen Entwicklungen unterscheidet. In einigen Fällen allerdings verlief es anders. Denn diese Jahre sind Zeuge eines neuen Phänomens. Bis 1989 war das Muster klar: Zuerst die Verfassungen, dann die Verfassungsgerichte. So war es in der Zwischenkriegszeit und so war es auch in der darauf folgenden Nachkriegszeit. Verfassungsgerichte dienten ausnahmslos und prinzipiell der Garantie einer neuen, aber auf jeden Fall bereits bestehenden Verfassungsordnung, der die Verfassungsgerichte auch ihre Existenz verdankten. Damit ist auch gesagt, dass der nationale Verfassunggeber zu dem Zeitpunkt, in dem die Verfassungsgerichte ihre Tätigkeit aufnehmen, seine Mission bereits erfüllt hat, bisweilen, wie in Italien, schon Jahre vorher. Das galt gleichfalls für die Verfassungsgerichtsbarkeit selbst, deren organische und funktionale Aspekte im Voraus mehr oder minder detailliert vom Verfassunggeber vorgeschrieben waren.

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      In dieser Periode gibt es aber wiederholt Situationen, in denen umgekehrt die Verfassungsgerichtsbarkeit der Verfassung vorausgeht. Es ist keine Ausnahme mehr, dass diese Verfassungsgerichte sich in der Lage befinden, als Geburtshelfer neuer Verfassungen, die darum kämpfen, endlich ins Leben zu treten, aufzutreten.[243] Der Begriff des Gerichtsaktivismus ist in diesen Fällen vielleicht nicht unangebracht, greift aber zu kurz. Es gab schon Gelegenheit, den Aktivismus mancher europäischer Gerichte zu erwähnen, sei dieser substantieller (die Schweiz) oder prozeduraler (Belgien) Natur. Diesmal aber hat man es mit einem Aktivismus neuer Prägung zu tun, der sich ohne Übertreibung dem Begriff der Verfassunggebung annähert. Drei Fälle sollen das Phänomen veranschaulichen.

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      Die Entwicklung in Polen[244] ist zunächst einmal Ausdruck einer veränderten Einstellung zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Während 1920 die Verfassung der 1. Republik das richterliche Prüfungsrecht in klaren Worten ausgeschlossen hatte,[245] scheint nun die Zeit der gerichtlichen Garantie der Verfassung für Polen gekommen. Dieser Fall ist vor allem deshalb beachtenswert, weil bereits 1985, unter der Verfassung der Volksrepublik, ein „Verfassungsgericht“ ins Leben gerufen wurde. Der politische Kontext zeichnete sich durch eine enorme politische Ambiguität[246] aus, wobei die Zuständigkeiten dieses Verfassungsgerichts unbedeutend blieben. Dennoch, als sich 1989 das politische System im Wege fragmentarischer Reformen in Richtung einer pluralistischen Demokratie entwickelte, war es diesem Verfassungsorgan schon gelungen, verbreitet Ansehen in der Öffentlichkeit zu gewinnen. So wurde es möglich, dass in der langen darauffolgenden Periode bis 1997, als es Polen endlich gelang, eine grundlegend neue Verfassung zu verabschieden, das Verfassungsgericht sich dazu berufen sah, auf der kargen Basis der veränderten, aber letzten Endes beibehaltenen Verfassung der vorigen Volksrepublik als Verfassungsakteur aufzutreten.

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      Das polnische Verfassungsgericht bildet unter den erwähnten Umständen das erste Beispiel eines Verfassungsgerichts, das bereit ist, die vollständige Umwandlung des politischen Regimes in einen Rechtsstaat durchzuführen.[247] Mit der Ausweitung seiner Zuständigkeiten auf die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der gesamten Rechtsordnung der Republik im Jahr 1989 erhält das Verfassungsgericht das Instrumentarium, das diese definitive Umwandlung ermöglicht.

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      Die polnische Verfassungsgerichtsbarkeit wird durch die dank seiner breiten Antragsberechtigung besonders aktive Position des Bürgerrechtsbeauftragten charakterisiert.[248] Erwähnenswert ist auch die Typisierung der verschiedenen Urteilsgattungen,[249] wie insbesondere die „Signalurteile“, die auf halbem Weg zwischen Untätigkeitskontrolle und repressiver Normenkontrolle liegen.[250] Dabei handelt es sich nicht unbedingt um verbindliche Urteile, sondern vielmehr um Urteile, mit denen der Gerichtshof auf Mängel oder Lücken im Rechtssystem hinweist, die seine Kohärenz beeinträchtigen könnten.

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      Bis zu den Jahren der politischen Wende verfügte Ungarn über keine erwähnenswerten Erfahrungen im Bereich der Normenkontrolle.[251] Der ungarische Verfassungsgerichtshof resultiert aus den tiefgreifenden Reformen, die 1989 in die sozialistische Verfassung von 1949 als Ergebnis der parteiübergreifenden Vereinbarungen des sogenannten Runden Tisches („Totalrevision“ vom 23. Oktober 1989) eingeführt wurden. So war der Verfassungsgerichtshof schon tätig, als die ersten freien Wahlen nach der politischen Wende stattfanden.[252]

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      Es sind die ersten neun Lebensjahre (1990–1998), die die ungarische Erfahrung mit der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit zu einer der markantesten Episoden der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa machen.[253] Kein anderer als der erste Präsident des ungarischen Verfassungsgerichts und spätere Präsident der Republik,[254] László Sólyom, hat diese Entwicklung aus erster Hand einzigartig beschrieben.[255]

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      Dank einer großzügigen Regelung der Antragsberechtigung bezüglich der Normenkontrolle (actio popularis)[256] hat das Gericht die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der nationalen Rechtsordnung in vollem Umfang wahrnehmen können.[257] Aber weit über die erwartete Ausübung seiner Funktion hinaus, widmete der Gerichtshof sich einer Entwicklung der Verfassung, die ihn ohne Übertreibung als Verfassunggeber qualifiziert. In einem politischen Kontext der Lahmlegung des verfassungsändernden Gesetzgebers diente insbesondere das verbreitete Konzept der „unsichtbaren Verfassung“ als Vehikel einer außerordentlich aktivistischen Verfassungsrechtsprechung: Maßstab der Normenkontrolle – so die Vorstellung – müssen nicht unbedingt nur die Verfassungsbestimmungen sein; auch die zugrunde liegende oder „unsichtbare“ Verfassung kann diese Aufgabe erfüllen.[258] So stellte der Gerichtshof beispielsweise die Verfassungswidrigkeit der im ungarischen Strafgesetzbuch enthaltenen Todesstrafe mit Hilfe dieses Konzepts fest.[259] Andererseits versuchte das Gericht, durch häufigen Rückgriff auf „anweisende“ Urteile die Tätigkeit des Gesetzgebers zu lenken. Schließlich nahm es mit gleicher Überzeugung und Entschlossenheit – und mangels einer entsprechenden zeitgemäßen Verfassungsdogmatik – die Aufgabe wahr, die wesentlichen Kategorien der Rechtsstaatlichkeit aufzubauen.[260]

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      Das Endergebnis ist eine als solche benannte „rechtsstaatliche Revolution“, die, vom Grundsatz der Kontinuität des Rechtssystems ausgehend, die fundamentalen Postulate der Rechtsstaatlichkeit (z.B. ein striktes Rückwirkungsverbot im Strafrecht)[261] auferlegt. In den Worten Sólyoms: „Die größte Leistung des Verfassungsgerichts war die Begründung einer demokratischen, rechtsstaatlichen Verfassungskultur in Ungarn“.[262]

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      Die Folgen der Parlamentswahl von 2010, die einer einzigen Partei die nötige Mehrheit verschaffte, allein


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