Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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      Der EuGH hat relativ früh den Status der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften als deren „charte constitutionnelle“ begriffen.[275] Genauso hätte er sich selbst als „Verfassungsgericht“ der Union in materiellem Sinne bezeichnen können. Das hat er nicht getan, wohl um seine Stellung als höchster, wenn nicht gar der Gerichtshof der Union nicht zu schwächen. Es steht dennoch außer Zweifel, dass er im Gesamtgefüge des Unionsrechts verfassungsrechtliche Funktionen wahrnimmt. Wiederum in der Sprache der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgedrückt, übt der EuGH ein strenges Verwerfungsmonopol bezüglich des Sekundärrechts aus. Ebenso ist es kaum erforderlich, auf die hervorragende Rolle der Grundrechte der Union im Rahmen dieses Prüfungsrechts (gegenüber dem Sekundärrecht) hinzuweisen. Im Folgenden wird vor allem den Konsequenzen Beachtung geschenkt, die sich für die Verfassungsgerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten aus der Präsenz des EuGH im europäischen Rechtsraum ergeben.

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      Noch vor der Beschreibung der Verträge als „charte constitutionnelle“ hat der EuGH den Vorrang des Unionsrechts gegenüber der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten festgestellt, ohne dass die Präzisierung, dass es sich (nur) um einen Anwendungsvorrang handelt, die Stringenz dieser Proklamation erheblich entschärft hätte: Das Unionsrecht als Ganzes und in jeder seiner Erscheinungsformen verdrängt die Anwendung des Rechts der Mitgliedstaaten als Ganzes und in jeder seiner Erscheinungsformen.[276] Prozedural führt dieses Verständnis zur Pflicht jedes Spruchkörpers der Mitgliedstaaten, das entgegenstehende nationale Recht unangewendet zu lassen. So kehrt ein alter Bekannter, das richterliche Prüfungsrecht, in einem völlig anderen Kontext zurück.

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      Die Feststellung des Vorrangs des Unionsrechts, heute Teil des EU-Primärrechts,[277] hatte potenziell verheerende Auswirkungen auf die Position der Verfassungsgerichte in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Die Tatsache aber, dass diese Feststellung bereits in einem frühen Stadium der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts stattfand, ermöglichte eine zunächst gelassene Aufnahme seitens der höchsten Gerichte der Mitgliedstaaten. Die Fortschritte des Integrationsprozesses, mit der damit einhergehenden Ausweitung und Verdichtung des Unionsrechts, haben seitdem dennoch zunehmend argwöhnische Reaktionen erweckt. Es sei hier nur auf das früh in Italien eingeführte Konzept der controlimiti als innerstaatliche Grenze zum Vorrang des Unionsrechts hingewiesen. Heutzutage ist es das Konzept der Verfassungsidentität, das die nationalen Verfassungsgerichte anführen, um dem Vorrang des Unionsrechts eine ultimative Grenze zu setzen. Mit unterschiedlichen Formulierungen sind viele Verfassungsgerichte in der Tat dazu übergegangen, einen unionsrechtsfesten Wesenskern in den nationalen Verfassungen zu identifizieren. Ohne andere Probleme dieser Entwicklung zu leugnen, wächst dadurch in Europa das Bewusstsein eines für alle bedingungslos verbindlichen verfassungsrechtlichen ordre public. Gerade als Endpunkt dieser Darstellung mag das Lissabon-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 als Kristallisationsmoment des Konzepts der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten begriffen werden.[278] Das Urteil beschrieb den deutschen Kanon der Verfassungsidentität und wurde zu einer Bezugsgröße für andere nationale Verfassungsgerichte.

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      Der Schutz der Grundrechte als Schlüsselkompetenz der nationalen Verfassungsgerichte ist auch wieder eine spezielle Frage in ihren Beziehungen zum EuGH gewesen. Wenn es nach den Aussagen seiner Präsidenten geht, lehnt der EuGH seine Einstufung als „Menschenrechtsgericht“ ab.[279] Es mag dafür mehrere Gründe geben. Tatsache aber ist, dass der EuGH die Grundrechte schon seit alten Zeiten bei seiner Urteilsfindung miteinbezogen hat. Der Solange II-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1986 mag in diesem Kontext als Symbol eines langanhaltenden Waffenstillstandes zwischen den Gerichten gelten.[280] Dennoch hat es nie an Zwischenfällen gefehlt, wie etwa die Rechtssache Mangold zeigt, die die Instabilität des status quo vor Augen geführt haben.[281] Die am 1. Dezember 2009 im Lissabon Vertrag erfolgte Inkorporierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in das Primärrecht der Union hat eine Entwicklung in dieser Beziehung ausgelöst, die schon jenseits unserer Darstellung steht. Zehn Jahre später bleibt dies in vielen Punkten eine offene Entwicklung, deren Behandlung in einem Rückblick wie dem hier unternommenen fehl am Platze wäre.

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      Ein weiterer Vorgang, diesmal prozeduraler Natur, verdient im Rahmen dieser Darstellung abschließend Erwähnung. Nach einer langen Phase des passiven Widerstands haben die nationalen Verfassungsgerichte im Wege des Vorabentscheidungsverfahren des Art. 267 Abs. 3 AEUV dem EuGH Fragen vorgelegt. Es war für diese Gerichte in der Tat nicht leicht zu akzeptieren, dass das Unionsrecht für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer nationalen Norm gegebenenfalls relevant sein könnte. Es waren die Verfassungsgerichte Österreichs und Belgiens, die Vorreiter einer Entwicklung waren, die sich nach der hier in Betracht gezogenen Periode offensichtlich intensiviert hat.[282]

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      Am 3. November 2009, kaum vier Wochen vor dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags, hielt der Vizepräsident und anstehende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, einen Vortrag mit einem Titel, der gleichzeitig wie ein Aktionsprogramm anmutete, „Der europäische Verfassungsgerichtsverbund“.[283] Der Zeitpunkt des Vortrags ist alles andere als zufällig: Kaum vier Monate vorher hatte Karlsruhe im schon erwähnten „Lissabon-Urteil“ die roten Linien gegenüber einer „ever closer union“ gezogen.[284] In diesem Zusammenhang präsentiert sich der Vortrag Voßkuhles als Metadialog, das heißt, als Einladung zu einem Dialog zwischen den höchsten europäischen Gerichten über die mögliche Struktur und Praxis eines dialogischen Verbunds untereinander: Der europäische Verfassungsgerichtsverbund als alternatives Desiderat zur Konfrontation.

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      Zwischen 1918 und 1999, im Laufe einer von allerlei Unterbrechungen begleiteten Entwicklung, wird Europa buchstäblich von Verfassungsgerichten bevölkert. Dies ist wohl die Hauptneuerung, die das vorige Jahrhundert zur Verfassungskultur Europas beigetragen hat. Mit Sicherheit hat Europa parallel dazu fundamentale Fortschritte bei der Konstitutionalisierung seiner politischen Gemeinschaften auf nationaler Ebene erzielt. Idee und Praxis der demokratischen rechtsstaatlichen Verfassung wurden während dieser Zeit in Europa erst möglich gemacht. Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass diese Errungenschaften in der Verfassungsgerichtsbarkeit ihren unersetzlichen Verfechter gefunden haben.

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      Aus Gründen, die in engem Zusammenhang mit der Geschichte des Kontinents stehen, nahm dieser Verfechter die Form eines einzigartigen Gerichts an. Das war jedenfalls immer der Fall, wenn die Aufgabe, der Verfassung Normativität zu verleihen, ein bestimmtes Maß an Entschlossenheit und savoir faire verlangte. Aus der Perspektive der europäischen Implikationen der normativen Verfassung werden die Verfassungsgerichte das Abenteuer des Jahrhunderts bleiben.

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      Evolution ist kein Markenzeichen der Verfassungsgerichtsbarkeit, weder in Europa noch anderswo. Die verschiedenen Bausteine des Rechtsstaates sind alle prinzipiell entwicklungsbedingt. Nun besitzt diese evolutionäre Beschaffenheit des Rechtsstaates im Falle der Verfassungsgerichtsbarkeit eine eigene Dichte, die es erlaubt, in Europa von einer evolutiven Identität der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sprechen. Der Vergleich


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