Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
und Richter in den Höchsten Gerichten des Großherzogtums; das Verfassungsgericht übt eine ausschließlich konkrete oder inzidente Normenkontrolle aus, die darüber hinaus nur die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung feststellt, während dessen Aufhebung dem Gesetzgeber selbst obliegt.[217]
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Das Zustandekommen des Verfassungsgerichts in Andorra erfolgte 1993 im Rahmen der Verabschiedung einer neuen Verfassung für das Fürstentum. In seiner Ausgestaltung ist der Einfluss der spanischen Verfassung von 1978 deutlich sichtbar, so dass es fast wie ein Miniaturmodell des spanischen Verfassungsgerichts anmutet.[218]
e) Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Grenze? Verfassungsinterpretation als primäre Aufgabe der Verfassungsgerichte
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Am Vorabend der europäischen Wende des Jahres 1989 gehört die konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa zum geläufigen Arsenal der Verfassung. Anders als es 40 Jahre vorher der Fall war, sind der Vorrang der Verfassung und die Prüfung der Gesetze durch ein besonderes Gericht allgemein anerkannt. Mit dem konzentrierten System der Normenkontrolle scheint in Europa ein Gleichgewicht zwischen der Würde des Parlamentsgesetzes als ordentlichem Ausdruck der Volkssouveränität und dem Vorrang der Verfassung als außerordentlichem Ausdruck derselben gefunden zu sein. Die Frage ist jedoch, ob die Bezeichnung „Schutz der Verfassung“ bzw. „Verwerfungsmonopol“ weiterhin adäquate Begriffe für die Beschreibung dieser neuen Verfassungsfunktion sind, oder ob man sich nicht auf die Suche nach anderen und passenderen Formeln begeben sollte. Die Antwort auf diese Frage erfordert einen kurzen Exkurs.
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In der ersten Hälfte der 1960er Jahre fand im deutschsprachigen Raum eine nicht uninteressante terminologische Wandlung statt, die einen möglichen Weg zur Beantwortung dieser Frage bieten könnte. Es kommt nämlich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre eine Zeit, in der die bis dahin in diesem Sprachraum übliche Redeweise von Verfassungsauslegung[219]durch den Begriff der Verfassungsinterpretation verdrängt wird.[220]
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Kein anderer als Konrad Hesse führt die Tragweite der Entwicklung vor Augen, die sich hinter diesem Wortwandel verbirgt, indem er 1967 das zweite Kapitel seiner epochemachenden „Grundzüge“ der „Verfassungsinterpretation“ widmet.[221] In seinen klassisch gewordenen Worten, ist es „Aufgabe der Interpretation […], das verfassungsmäßig ,richtige‘ Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begründen“.[222] Und es versteht sich von selbst, dass dieser Interpret prinzipiell das Bundesverfassungsgericht ist.[223] Sehr grob ausgedrückt, ist der Grundgedanke einfach, dass der Wortlaut der Verfassung ständig und prinzipiell verlangt, eine Arbeit der Konkretisierung an Hand von Fällen vorzunehmen: Verfassungsinterpretation als Verfassungskonkretisierung.[224]
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Die unmittelbare Positionierung des Kapitels nach der Behandlung von „Begriff und Eigenart der Verfassung“ erscheint als eine radikale Neuheit. Diese systematische Einordnung der Verfassungsinterpretation unterstreicht einerseits die Relevanz, die die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit als solche erlangt hat, wobei sie andererseits das Wesen der neuen Funktion, der Verfassungsinterpretation, offenlegt. Das Endergebnis dieser Entwicklung ist, dass man mit Begriffen wie „Verwerfungsmonopol“ nicht mehr weit kommt. Ohne Frage bleibt der Schutz der normativen Verfassung ein gerichtlicher Schutz, der in die Hände des Verfassungsgerichts gelegt wird. Aber die Aufgabe des Verfassungsgerichts wird unzureichend mit der Idee erklärt, dass es sich um das Verfassungsorgan handelt, das zu einem gegebenen Zeitpunkt ein parlamentarisches Gesetz als verfassungswidrig kassiert. Das Verfassungsgericht wird jetzt in erster Linie zum obersten Interpreten der Verfassung emporgehoben, als der es sich gerne präsentiert.
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Diese Entwicklung könnte so verstanden werden, als ob das Verfassungsgericht sich als den privilegierten Gesprächspartner des historischen Verfassunggebers gesehen hätte. Und so ist es zu einem wachsenden „Grummeln“[225] von Seiten anderer Protagonisten des Verfassungsrechts gekommen. Gerade im Jahr 1989 veröffentlichte Bernhard Schlink seine vielbeachtete Schrift zur „Entthronung“ der Staatsrechtswissenschaft, die nicht etwa in Form eines republikanischen Umsturzes, sondern durch die Inthronisierung eines anderen Prinzen, des Bundesverfassungsgerichts, geschieht.[226] Karlsruhes „Dezisionismus“ wird dabei zum Hauptvorwurf.[227] Im Laufe der Jahre haben sich die Unstimmigkeiten vermehrt. Jahre später wird das entgrenzte Gericht das Epitheton, unter dem eine brilliante Gedächtnisschrift zum 60. Jahrestag des BVerfG[228] steht. Die Vorstellung scheint keineswegs abwegig, dass diese Formel schon 20 Jahre zuvor hätte geprägt werden können.[229] Kurzum, Legitimität und Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit europäischer Prägung wird ab diesem Moment nicht mehr als selbstverständlich angenommen,[230] und die counter-majoritarian difficulty auf dieser Seite des Atlantiks findet wachsendes Gehör.[231]
3. Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Mauer (1989–2009)
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Die letzte Zeitspanne in der hier nachgezeichneten Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa ist an erster Stelle vom Fall der Berliner Mauer und der anschließenden Wiedereinführung pluralistischer rechtsstaatlicher Regime in Mittel- und Osteuropa gekennzeichnet. In diesem geographischen Raum sind die auf 1989 unmittelbar folgenden Jahre Zeugen eines Revitalisierungs- und teilweise Erneuerungsmoments des europäischen Systems der Normenkontrolle. Gleichzeitig fallen auch andere Mauern mehr symbolischer Natur, die die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit überall betreffen: Für den entstehenden kontinentalen Rechtsraum ist es eine Periode der Neupositionierung der Verfassungsgerichte in einem supranationalen Verfassungsraum, in dem die staatlichen Grenzen immer weniger bedeuten. Die Entwicklung zu einem pluripolaren europäischen Rechtsraum, der auch die „Entthronung“ der nationalen Verfassungsgerichte mit sich bringt, ist das Werk von zwei europäischen Akteuren richterlicher Natur, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Union. Dieses Bild wird schließlich durch die Stärkung der verfassungsrechtlichen Dimension nationaler Oberster Gerichte in Staaten, in denen spezielle Verfassungsgerichte fehlen, vervollständigt. Auf dieses letzte Phänomen ist zunächst kurz einzugehen.
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Es sind mehrere oberste nationale Gerichte, die besonders in dieser Periode ihre verfassungsgerichtliche Funktion verstärken. Dies gilt unter anderen für Finnland[232] und die Niederlande.[233] Die Rolle des Schweizer Bundesgerichts bei der Verfassungsentwicklung ist schon hervorgehoben worden.[234] Diese allgemeine Entwicklung steht oft in Zusammenhang mit dem Prozess der europäischen Integration. Die Tendenz dieser Gerichte, der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte als Vollmitglied – nicht nur als Beobachter – beizutreten, wurde bereits erwähnt.[235] Im Vereinigten Königreich wird die Prüfung der Parlamentsgesetze über verschiedene Umwege ermöglicht. In dieser Beziehung gewinnt die dortige Einsetzung eines Supreme Court am 1. Oktober 2009, mit dem entsprechenden Verlust der gerichtlichen Funktionen des House of Lords, im Rahmen unserer Entwicklung symbolreichen Charakter.[236]
a) Die Verfassungsgerichte der europäischen Wende
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Symbolreich erscheint auch die erneute Veranstaltung eines Heidelberger Kolloquiums zur vergleichenden Verfassungsgerichtsbarkeit im Jahr 1998. Dieses Mal geht es um „eine erste Zwischenbilanz des verfassungsrechtlichen Transformationsprozesses in Mittel- und Osteuropa seit 1989“.[237] Tatsächlich tauchen seit diesem Jahr, und eigentlich sogar noch vorher, Verfassungsgerichte in den neuen Verfassungen der Republiken der östlichen Hälfte Europas „in Scharen“ auf.[238]