Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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1949 sehen beide ein rechtsprechendes Organ mit dem Namen „Verfassungsgericht“ vor, dem das Verwerfungsmonopol von Gesetzen obliegt. Die effektive Umsetzung des Systems dauert jedoch einige Zeit: bis 1951 in der Bundesrepublik Deutschland, bis 1956 in der Italienischen Republik. Zeitlich davor erfolgt jedoch die Restaurierung des schon bekannten österreichischen Verfassungsgerichtshofs.

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      Für Österreich bedeutet das Kriegsende die Rückgewinnung seiner Unabhängigkeit als Staat. Die wiederhergestellte Republik Österreich zieht jedoch den Gedanken eines erneuten Prozesses der Verfassunggebung nicht in Betracht. Stattdessen begnügt sie sich damit, die Verfassung von 1920 wieder in Kraft zu setzen, die Verfassungsgerichtsbarkeit selbstverständlich eingeschlossen, und zwar in der Fassung vor der autoritären Wende von 1933 bzw. so wie sie nach der Verfassungsreform von 1929 galt.[174] Für den europäischen Verfassungsraum impliziert dies, dass Italien und Westdeutschland einen operativen Bezugspunkt im österreichischen Verfassungsgericht zur Verfügung haben, unabhängig davon, in wie weit sie sich an diesem Modell im Detail orientieren.

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      Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass Österreich nach der Errichtung der neuen Verfassungsgerichte in Deutschland und Italien nicht mehr der Referenzpunkt par excellence auf europäischer Ebene blieb. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist das im Vergleich geringere Gewicht des Landes. Aber es gibt auch andere Faktoren, die eher mit der Struktur der österreichischen Verfassung zusammenhängen. Im Bereich der Grundrechte hielt Österreich weiter an der alten Erklärung der Grundrechte von 1867 fest, was gerade nicht zu einer innovativen Rechtsprechung in diesem rasch wachsenden Bereich beitrug. Andererseits verzweigte sich das österreichische Verfassungsrecht seit Beginn in einer ständig wachsenden Zahl von Gesetzen bzw. Gesetzesbestimmungen mit Verfassungsrang, bis es zu einer abstrakten normativen Kategorie wurde, dem Verfassungsrecht, das einer ebenso abstrakten Rechtskategorie, der des Gesetzes, gegenüberstand. Auch die lang anhaltende Zurückhaltung des Verfassungsgerichtshofs angesichts des Gerichtsaktivismus stand einer mächtigen Außenwirkung des österreichischen Modells entgegen. Es ist dennoch nicht zu leugnen, dass das österreichische Modell das Modell geblieben ist, das seit der ersten Formulierung des Systems das höchste Maß an Kontinuität und Stabilität aufzeigt.

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      So wie Wien während der Zwischenkriegszeit die Hauptstadt der Verfassungsgerichtsbarkeit more Europaeo war, so wird es jetzt Karlsruhe sein, als Sitz des neuen Bundesverfassungsgerichts des nicht minder neuen Bonner Grundgesetzes, der provisorischen Verfassung für die westlichen Gebiete des drastisch geteilten deutschen Territoriums.[176] Es ist kein Titel, den Karlsruhe sich vom ersten Moment an aneignen durfte, denn Karlsruhes Anfänge waren nicht weniger bescheiden als die der Verfassung, die zu garantieren das neue Gericht berufen war.[177] Im Laufe der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erlebt man jedoch den Aufstieg eines wahren Mythos, nämlich den eines Verfassungsgerichts, das eine Autorität und Anerkennung im In- und Ausland erlangen sollte, wie sie im europäischen Raum für ein Gericht jedweder Art bis dahin unbekannt war.[178]

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      Im Grundgesetz mit den Hauptzügen des österreichischen Systems ausgestattet, blieb eine Zahl der – sowohl organischen als funktionalen – Merkmale dieses neuen Verfassungsorgans offen.[179] Erst im Laufe der Zeit erfuhr das Bundesverfassungsgericht, wie wir es heute kennen, vollständige Regelung im Grundgesetz selbst: So z.B. die Verfassungsbeschwerde. Auch für seine Konsolidierung wurde ihm nicht viel Zeit gegeben. Vom ersten Moment an war es mit Fragen von höchster politischer Sensibilität konfrontiert.[180] Wenn dies eine kurz gefasste Erklärung seines Erfolgs sein kann, so entstand das Bundesverfassungsgericht zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Darüber hinaus verstanden es die ersten Verfassungsrichter und die erste Verfassungsrichterin, auf ihre historische Herausforderung entsprechend zu reagieren.[181]

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      Die Hauptrolle sollte bald der Verfassungsbeschwerde zukommen, als dem effektivsten Verfahren zum Schutz des neuralgischen Zentrums des Grundgesetzes, den Grundrechten. Das strategische Instrument war die Urteilsverfassungsbeschwerde, d.h. das Rechtsmittel gegen alle letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen. Im Rahmen der Normenkontrolle sollte jedoch das Verhältnismäßigkeitsprinzip der ausschlaggebende Faktor werden. Kurz gesagt: Was Karlsruhe mit Ausstrahlung und Auswirkung auf ganz Europa zur Welt bringt, ist das Bild eines Gemeinwesens, in dem sowohl das öffentliche Handeln wie ein beachtlicher Teil des Handelns Privater an der Verfassung gemessen werden, letzteres deshalb, weil die Verfassung vermag, dazu etwas zu sagen, und das Bundesverfassungsgericht es ist, das darüber befindet, ob das der Fall ist.

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      Außer bezüglich seiner Struktur als Zwillingsgericht, d.h. seiner Zweiteilung in zwei Spruchkörper, die Senate, mit jeweils eigenen Kompetenzen, wird das Bundesverfassungsgericht sonst in seinen Hauptzügen im europäischen Raum imitiert. Andere europäische Verfassungsgerichte versuchen, viele seiner grundlegenden formulae (Doppelcharakter und Strahlungswirkung der Grundrechte, Verhältnismäßigkeitsprinzip, usw.) zu übernehmen. Es wurde aber darüber hinaus auch verfolgt, das Beispiel Karlsruhes in seiner Innovationsfähigkeit, in der Kühnheit der Ausübung seiner Kompetenzen und bisweilen sogar in seiner Vorrangstellung im gesamten Verfassungssystem nachzuahmen, und das alles ohne klares Bewusstsein der besonderen Umstände, die dies in Deutschland ermöglicht hatten.[182]

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      Für viele Jahre erscheint die italienische Corte costituzionale als das andere europäische Verfassungsgericht, in dem Sinne, dass es zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht zukunftsweisend die Verbreitung des europäischen Systems in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts prägt. Zwar liegt die Corte costituzionale als 1948 in der Verfassung vorgesehener Verfassungsgerichtshof zeitlich kurz vor dem Bundesverfassungsgericht. Verschiedene Umstände bringen es jedoch mit sich, dass die vollständige Regelung des Gerichts und damit die Aufnahme seiner Amtsgeschäfte sich um acht Jahre verzögert.[183] Das Gericht fand jedoch von Anfang an einen Vorgänger in der Alta Corte für Sizilien, die über die Beachtung der Kompetenzverteilung zwischen der jungen Republik und der Region Sizilien in diesen ersten Jahren wachte.[184] Die Rolle der Corte costituzionale in der italienischen Rechtsordnung hat sich im Laufe der sieben Jahrzehnte ihres Bestehens entsprechend gewandelt.[185] In ihrer Eigenschaft als eines der ersten Verfassungsgerichte Europas, erscheint heute die Corte costituzionale als das stabilste Element der italienischen Verfassung, womöglich nur mit dem Amt des Präsidenten der Republik zu vergleichen.

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      In der Entwicklung des europäischen Systems stellt das italienische Modell eine Variante der Verfassungsgerichtsbarkeit dar, die hauptsächlich auf der inzidenten oder konkreten Normenkontrolle beruht, einer Funktion, die also grundsätzlich von der Zusammenarbeit der Judikative mit der Corte costituzionale abhängig ist: Das erste Urteil (1/56) proklamierte die unmittelbare Geltung der Verfassung gegenüber der Gesamtheit der italienischen Rechtsordnung mit der Konsequenz der eventuellen Nichtigkeit (und nicht einfach der Außerkraftsetzung) des vorkonstitutionellen Rechts, das als solches und anders als in Deutschland auch dem Verwerfungsmonopol der Corte costituzionale unterstand.[186] Das hinderte den Gerichtshof im Laufe der Zeit nicht daran, die ordentlichen Richter zu ermutigen, die verfassungskonforme Auslegung des jeweiligen Gesetzes selbst vorzunehmen, bevor sie die Frage der Corte vorlegen.[187] Ebenso hat die Corte costituzionale angesichts der wachsenden Dezentralisierung des Staates ihre Aufgabe als Garant der territorialen Machtverteilung zunehmend wahrgenommen.[188] Aus vergleichender Perspektive sei zusätzlich nur die Kompetenz der Corte costituzionale noch hervorgehoben,


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