Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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handelt, wobei die Prüfung der formalen Verfassungsmäßigkeit dem Parlament zusteht. Ein Element der konzentrierten Kontrolle bildet jedoch der „Oberste Sondergerichtshof“, der zuständig ist, im an sich seltenen Fall widersprüchlicher Rechtsprechung in Verfassungsfragen seitens der höchsten Gerichte zu entscheiden. Stellt dieser Spruchkörper die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes fest, ist es von diesem Zeitpunkt an „unwirksam“, so dass es nicht nur „unangewendet“ bleibt.[203]

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      Das Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional), dem der IX. Titel der spanischen Verfassung vom 29. Dezember 1978 gewidmet ist, ist das erste in Europa, das direkt auf einer Linie mit den Verfassungsgerichten Deutschlands und Italiens liegt.[204] Die Verfassung von 1978 ist das Endprodukt einer formal bruchlosen Wandlung (transición política) in eine rechtsstaatliche Demokratie, die für die späteren Umwandlungen in Mittel- und Osteuropa nach 1989 als Präzedenzfall angesehen wurde. Das gilt auch für das spanische Modell der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit, das sich als Dreh- oder Verbindungspunkt zwischen den ersten Gerichten der unmittelbaren Nachkriegszeit und denen, die nach 1989 entstanden, präsentieren kann. Die spanische Variante trägt Züge einer Kombination von Elementen des deutschen und italienischen Vorbildes. Im spanischen Fall ist die Anwendung der Rechtsvergleichung bewusst und beabsichtigt. Wenn man vom Fall Liechtenstein absieht, ist Spanien die erste Monarchie mit einem Verfassungsgericht.

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      Aus vergleichender Perspektive zeichnet das spanische Verfassungsgericht sich dadurch aus, dass es von Anfang an eine äußerst aktive Rolle im Prozess der Umwandlung Spaniens in einen stark dezentralisierten Staat gespielt hat, wie er in der Verfassung in groben Zügen vorgezeichnet war. Der akute Bedarf eines Schiedsrichters im Rahmen des sogenannten „Autonomieprozesses“ der Jahre 1979 bis 1983[205] erklärt die Schnelligkeit, mit der im Vergleich zu Deutschland und Italien die Normierung und Einsetzung des Gerichts erfolgte. Seit diesen Anfangsjahren ist die Einbindung des Tribunal Constitucional in alle Streitfragen betreffend den sogenannten „Staat der Autonomien“ viel ausgeprägter als bei anderen Verfassungsgerichten. Auch in dieser Hinsicht mag dieses Gericht den Aktivismus später entstandener europäischer Verfassungsgerichte ankündigen.

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      Aus der Perspektive der „Bürgergerichtsbarkeit“ erscheint das spanische Modell als ein wahrer Musterschüler von Karlsruhe. Mit dem ehrwürdigen Namen des „amparo“ übernimmt Spanien das deutsche Modell der Verfassungsbeschwerde in vollem Umfang. Damit ist insbesondere die „Urteilsverfassungsbeschwerde“ gemeint, mit allem, was das als Hebel der Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung impliziert. Der amparo fungierte darüber hinaus in den Anfangsjahren der Verfassung von 1978 als eine Art „Vormundschaft“ über eine aus der vorigen Periode in ihrer Gesamtheit übernommenen Judikatur, jedoch zu dem Preis einiger eklatanter Konflikte zwischen dem Verfassungsgericht und dem Obersten Gericht.[206]

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      1974 erreicht die Demokratie Portugal in Form eines stark vom Kolonialkrieg bedingten revolutionären Prozesses, der sich von einem tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Programm inspirieren ließ, das er zum Teil auch umsetzte. Der revolutionäre Geist sollte bis zur tiefgreifenden Reform im Jahr 1982 die Verfassung vom 2. April 1976 stark prägen. Der Schutz der Verfassung wird in die Hände eines schon bestehenden, aus Militärangehörigen zusammengesetzten Conselho da Revoluçâo gelegt, der seinerseits von einer technischen unparteiischen Comissâo Constitucional unterstützt wird. Angesichts des programmatischen Charakters dieser Verfassung sollte der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassen eine prominente Rolle zukommen. Eine Art konkreter Normenkontrolle erfolgte durch die Kooperation zwischen der Commissâo Constitucional und den ordentlichen Gerichten.[207]

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      Diese Vorläufer erklären die Besonderheit der heutigen Normenkontrolle in Portugal, wie sie aus der Verfassungsreform von 1982 hervorgeht. Seit diesem Jahr obliegt die Verfassungsgerichtsbarkeit einem Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional),[208] das die oben genannten Conselho und Comissâo ersetzt. Das portugiesische Modell verbindet in eigenartiger Weise die portugiesische Tradition der diffusen Normenkontrolle mit einer konzentrierten sowohl präventiven als auch repressiven Kontrolle vor dem Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht besteht aus 13 Mitgliedern, von denen zehn vom Einkammer-Parlament und drei durch Kooptierung von den anderen Richtern ernannt werden. Die vom Gerichtshof durchgeführte Normenkontrolle umfasst die verschiedenen Varianten der abstrakten Kontrolle (vorbeugende und nachträgliche) sowie die Kontrolle wegen Unterlassen des Gesetzgebers. Sollte ein Richter im Rahmen der diffusen Kontrolle ein Gesetz in einem Verfahren unangewendet lassen, so kann die unterlegene Partei und muss die Staatsanwaltschaft beim Verfassungsgericht Rechtsmittel einlegen, welches definitiv über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes entscheidet.[209]

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      Bis zu diesem Zeitpunkt schien es, als ob Verfassungsgerichte in Europa Sache von bisher verfassungsinstabilen oder gar gescheiterten Verfassungsstaaten sei. Die 1980er Jahren sehen dennoch die Einführung der konzentrierten Verfassungskontrolle in einer Zahl europäischer Staaten mit konsolidierter Demokratie. Es handelt sich an erster Stelle um Belgien, gefolgt von Luxemburg und Andorra.

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      1980, vor dem Hintergrund eines heftigen parlamentarischen Widerstands auf den zaghaften Versuch der belgischen Cour de cassation, die Normenkontrolle in die eigene Hand zu nehmen,[210] und im Rahmen einer tiefgreifenden Dezentralisierung des Staates, wird in Belgien eine Cour d’arbitrage/Arbitragehof als Instrument einer konzentrierten Normenkontrolle eingeführt.[211] Schon sein Name legt die Hauptaufgabe des Gerichts offen, nämlich die Lösung der territorialen Konflikte legislativer Natur.[212] Dies ist auch seine Kernkompetenz in einer ersten Periode. Die föderale Besonderheit dieses Modells der konzentrierten Normenkontrolle spiegelt sich auch in seiner paritätischen Zusammensetzung wider: er ist zu gleichen Teilen aus Gerichtsmitgliedern der beiden Gebiete Flandern und Wallonien und dabei wiederum zu gleichen Teilen aus Juristen und Parlamentariern zusammengesetzt.[213] Doch das Gericht, das in der Absicht geschaffen wurde, über ein auf die föderalen Aspekte der Verfassung spezialisiertes Fachorgan zu verfügen, zeigt sich von Anfang an entschlossen, auch auf dem Gebiet der Grundrechte aktiv zu sein.[214]

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      Seine Kompetenz wird ab 1988 schrittweise auf andere Bereiche entsprechend ausgedehnt. So wird in diesem Jahr seine Zuständigkeit auf Verfassungsbestimmungen ohne Bezug zu territorialen Streitigkeiten erstreckt, insbesondere auf den Gleichheitsgrundsatz (Artikel 10) und das Diskriminierungsverbot (Artikel 11). Auf dieser Grundlage und mit Hilfe einer originellen sogenannten Kombinationsmethode, wonach jede Verletzung eines Grundrechts gleichzeitig als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot angesehen wird, dehnt die Cour d’arbitrage ihre Funktion auf die Gewährleistung aller Grundrechte aus. Diese Rechtsprechung wird durch die Verfassungsreform von 2003 formal anerkannt, indem die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf Titel II der Verfassung (Grundrechte) erstreckt wird.[215] 2007 endlich wird diese Wandlung des ursprünglichen Modells durch eine entsprechende Namensänderung des Gerichts (Cour constitutionnelle/Grondwettelijk) anerkannt.

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      Als weitere Beispiele der Einführung der konzentrierten Normenkontrolle in stabilen Demokratien sollen hier auch die Fälle von Luxemburg (1996) und Andorra (1993) Erwähnung finden. In Luxemburg findet die Einführung eines Verfassungsgerichts anlässlich einer Reform


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