Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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der hier dargestellten Entwicklung.[263] Es genügt hier zu erwähnen, dass die Stellung und sogar die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts in der ungarischen Rechtsordnung aufgrund entsprechender Reformen (Erhöhung der Zahl der Richter, Abschaffung der actio popularis, usw.) eklatant gelitten haben.

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      Aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive erscheint die heutige Tschechische Republik zusammen mit der ehemaligen Tschechoslowakei als ein Musterfall der Treue zur Idee der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie war nicht nur, wie erwähnt, das erste Beispiel der konzentrierten Normenkontrolle (1920–1938). Andere – allerdings gescheiterte – Versuche ihrer Wiedereinführung folgten bis zur jetzigen Verfassung: So, und das betrifft immer noch die Tschechoslowakei, in den wenigen Jahren der noch rechtsstaatlichen Republik der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945–1948), 1965 unter dem sozialistischen Einparteien-Regime,[264] 1968 während des „Prager Frühlings“[265] und noch nach der Wende vor dem Untergang der Tschechoslowakei als Staat, diesmal mit einem Verfassungsgericht mit paritätischer territorialer Zusammensetzung.

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      Seit dem Jahr 1993 und ungeachtet einiger Besonderheiten verfügt Tschechien heute über ein Verfassungsgericht in bester europäischer Tradition.[266] Nach ersichtlich nordamerikanischem Muster werden alle 15 Richter alle neun Jahre vom Präsidenten der Republik und mit Zustimmung des Senats ernannt, von denen der Präsident der Republik den Präsidenten und die beiden Vizepräsidenten des Gerichts frei ernennt. Diese zeitliche Strukturierung des Gerichts hat dazu geführt, dass die Perioden der Entwicklung des Gerichts nach dem jeweiligen Präsidenten der Republik, der für die jeweilige Zusammensetzung des Gerichts verantwortlich war, bezeichnet werden: So wird innerhalb des hier untersuchten Zeitraums von einem „Havel-Gericht“ (1993–2002) und einem „Klaus-Gericht“ (2003–2012) – jedes mit seiner eigenen Dynamik – gesprochen. Funktional liegt der Schwerpunkt der tschechischen Verfassungsgerichtsbarkeit in der abstrakten und konkreten Normenkontrolle,[267] hinzu kommt eine Gerichtsurteile allerdings ausschließende Verfassungsbeschwerde.

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      Obwohl gelegentlich vorhanden, erreicht die Judikatur des tschechischen Verfassungsgerichts bei weitem nicht den Aktivismus der beiden vorher dargestellten nationalen Fälle. Erwähnenswert ist hierzu jedoch die Rechtssache Melcák.[268] In diesem Fall zögerte der Gerichtshof nicht, die Verfassungswidrigkeit einer Verfassungsänderung festzustellen, die eine unmittelbar wirkende Verkürzung der laufenden Legislaturperiode verfügte. Das Verfassungsgericht argumentierte, dass eine einmalige Verkürzung der Legislaturperiode den grundlegenden Anforderungen des Rechtsstaates zuwiderlaufe,[269] und nicht einmal im Wege der Verfassungsänderung erfolgen könnte.

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      Die Jahre nach 1989 stellen insgesamt wohl die härteste funktionale Herausforderung für die Verfassungsgerichtsbarkeit europäischen Musters seit ihrer Entstehung dar. Es sei hierzu allgemein vorangestellt, dass die jungen pluralistischen Demokratien Mittel- und Osteuropas mit Blick vor allem auf Karlsruhe von dieser Variante des Systems vielleicht mehr erhofft hatten, als es unter den sehr verschiedenen Umständen leisten konnte.

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      Eine wahre Herausforderung war an erster Stelle die selbst auferlegte Aufgabe, eine erstmals nur bruchstückhafte Umwandlung des politischen Systems in eine rechtsstaatliche Demokratie mit den begrenzten Mitteln eines Verfassungsgerichts zu vervollständigen. Diese für sich genommen höchst riskante Aufgabe wurde seinerzeit insgesamt mit Erfolg gemeistert, wobei die Kosten solcher umstandsbedingten Unterfangen nicht immer im Voraus berechenbar sind.

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      Eine nicht minder große Herausforderung war die Rezeption einer völlig entwickelten Verfassungsgerichtsbarkeit wie sie namentlich Deutschland oder Italien im Laufe eines jahrzehntelangen Prozesses erreicht hatten. Als eine besonders schwierige Aufgabe musste sich der rasche Import der Fülle einer über die Jahre in diesen Ländern entwickelten Dogmatik der normativen Verfassung erweisen.

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      Herausfordernd war schließlich die Bereitwilligkeit dieser Verfassungsgerichte, den Vorrang eines voll entwickelten Unionsrechts gegenüber der gesamten nationalen Rechtsordnung einschließlich der Verfassung sozusagen über Nacht zu akzeptieren. Ihnen war es insbesondere nicht vergönnt, worauf noch zurückzukommen ist, von der langen Akklimatisierungsphase zu profitieren, die den alten Mitgliedstaaten, den eigentlichen Akteuren dieses fortschreitenden Integrationsraums, zur Disposition gestanden hatte.

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      Neben der präzedenzlosen Vermehrung der Zahl der nationalen Verfassungsgerichte sind diese 20 Jahre abschließend unter dem Aspekt zu betrachten, dass die beiden auf kontinentaler Ebene agierenden Gerichte, EuGH und EGMR, zunehmend als Verfassungsakteure verstanden wurden. Keiner von beiden war eine „neue Kreatur“ in Europa. Beide bestanden seit Jahrzehnten, ohne dass einer von ihnen zur Zeit seiner Entstehung als Verfassungsgericht begriffen worden wäre. Jeder von ihnen hat eine eigene Entwicklung erfahren. Beiden ist aber eine Annäherung an die Kategorie der Verfassung und insofern fast zwangsläufig an die der Verfassungsgerichtsbarkeit gemeinsam. Die Frage, ob es sich im wahren Sinne des Wortes um „Verfassungsgerichte“ handelt, ist unwichtig.[270] Erheblich ist vielmehr, dass ihre Präsenz in Europa dazu geführt hat, Verfassungsrecht auf eine neue Art zu erzeugen, nämlich auf kontinentaler Ebene und mit eigenen Auswirkungen auf die Position der nationalen Verfassungsgerichte.[271]

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      Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist das Jahr 1998 mit dem Inkrafttreten von Protokoll Nr. 11 zur EMRK von entscheidender Bedeutung. Durch dieses Protokoll wird die Individualbeschwerde zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die die wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs ausmacht, durch zwei wichtige Änderungen gestärkt. Einerseits wurde es für die Staaten verbindlich, die Zuständigkeit des EGMR zur Entscheidung über Individualbeschwerden anzuerkennen. Andererseits wurde dessen Architektur durch die Abschaffung der Kommission vereinfacht, so dass die Individualbeschwerden nun direkt vor den Gerichtshof gebracht werden konnten. Das hat dazu geführt, dass der europäische Kontinentalraum, um sich der Sprache der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bedienen, über eine Bürgergerichtsbarkeit verfügt, die, in Verbindung mit dem Gebot der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe und abgesehen vom theoretisch deklarativen Charakter seiner Urteile, prinzipiell als Urteilsverfassungsbeschwerde fungiert.[272]

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      Seitdem ist die Verwendung des Begriffs „Verfassungsgerichtshof“ in Bezug auf den EGMR immer häufiger geworden.[273] „Verfassungsrecht“, das wäre die Idee, kann ohne Bezug auf ein politisches Gemeinwesen entstehen. Es reicht, wie es hier der Fall ist, wenn Inhalt und Reichweite der nationalen Grundrechte im Laufe einer Entwicklung, bei der die Rechte der Konvention kontinuierlich an Quantität und Qualität zugenommen haben, durch die Judikate des EGMR weitgehend verbindlich bestimmt werden. In dieser Beziehung ist der Umstand, dass die Konventionsrechte nur einen Minimalstandard darstellen, praktisch belanglos geworden. Die nationalen Verfassungsgerichte sind dementsprechend nicht mehr die letzte Instanz in diesem für sie identitätsstiftenden Bereich. Das gilt alles, ohne die allgemeine Frage des gegebenenfalls bestehenden nationalen Vorrangs völkerrechtlicher Verträge, die EMRK selbstverständlich eingeschlossen, gegenüber Parlamentsgesetzen mit einzubeziehen: So kann das Verwerfungsmonopol des jeweiligen Verfassungsgerichts im Wege einer diffusen


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