Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
dieser Zuständigkeit, dass der Gerichtshof die zwei einzigen Urteile in seiner gesamten Existenz erließ.[161] Beide am selben Tag verkündeten Urteile enthielten eine verfassungskonforme Auslegung der Notstandsgesetzgebung, die letztendlich niemanden zufriedenstellte. Infolge dieses Ereignisses und auf Grund der praktisch ständig amtierenden Nationalversammlung wurde die Wiederbestellung der Ständigen Deputation verhindert. Die definitive Lahmlegung des Gerichts erfolgte, als die Richterwahl, die 1931 erneut stattfinden sollte, sich bis kurz vor dem Ende der Republik verzögerte.
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Sowohl auf Grund seiner Konzeption wie seiner Entwicklung erschöpft sich der Beitrag des Verfassungsgerichts der ersten Tschechoslowakischen Republik in seiner Funktion, mehr auf dem Papier als in der Praxis eine der vertretbaren Ausgestaltungen des neuen Systems der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit darzubieten. Aus der Perspektive der Rechtsvergleichung diente es dazu, als Kontrapunkt zur österreichischen Erfahrung zu fungieren. Es ist zuletzt hervorzuheben, dass die Entstehung und Entwicklung dieses mitteleuropäischen Verfassungsexperiments von einer beachtenswerten Publizistik begleitet wurde.[162]
cc) Madrid: Das „Tribunal de Garantías Constitucionales“ (1931–1939)
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Wie bei einer imaginären Restaurierung der Herrschaftsgebiete der alten Habsburger Monarchie wird Spanien der dritte Staat sein, der sich Österreich und der Tschechoslowakei bei der Übernahme des kelsenianischen Systems anschließt. In einer Zeit, in der viele der neuen nach 1918 entstandenen Verfassungen, insbesondere die beiden bereits beschriebenen Verfassungsgerichte, in eine aussichtslose Krise geraten, unternahm Spanien den zweiten praktisch bedeutenden Versuch zur Einrichtung der neuen Form der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, und zwar mit einem ebenso anormalen Ende wie die vorherigen.[163] Am 14. April 1931 kam es zum Sturz der 1874 restaurierten Bourbonen Monarchie und der Proklamation der 2. Republik. Eine verfassunggebende Versammlung (Cortes Constituyentes) verkündete am 9. Dezember desselben Jahres die Verfassung der jungen Republik. Es wurde damit eine parlamentarische Demokratie mit fortschrittlich sozialer Ausrichtung eingeführt, die ein offenes Programm für die Dezentralisierung des Staates enthielt, das bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 nur in Katalonien umgesetzt wurde.
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Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Fällen fehlte Spanien jede nennenswerte Erfahrung in Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit.[164] Mit der Verfassung von 1931 wurde nun eine eigene Variante des neuen Modells eingeführt, die die drei Grundelemente der Verfassungsgerichtsbarkeit, Normenkontrolle, quasiföderale Kompetenzstreitigkeiten und die Individualbeschwerde zum Schutz der Grundrechte (amparo), beinhaltete.[165] Diese Zuständigkeiten sollten von einem Tribunal de Garantías Constitucionales wahrgenommen werden.[166]
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Die Ausarbeitung des Gesetzes, das die in der Verfassung offen gebliebenen Aspekte des Modells schließen sollte, erwies sich als politisch kompliziert, so dass es nur um den Preis einiger Abweichungen im Vergleich zum ursprünglichen Konzept gelang, das Gericht in Gang zu setzen.[167] So wird insbesondere die Verfassungswidrigkeitserklärung von Gesetzen letztendlich nur inter partes wirken. Betreffend dieser ersten Erfahrung Spaniens mit der Verfassungsgerichtsbarkeit österreichischer Prägung ist die Frage berechtigt, ob es sich aus organischer Sicht und als Ganzes gesehen wirklich um ein „Gericht“ handelt. Denn es war ein wahrlich bunt zusammengesetztes Organ, in dem sowohl Juristen unterschiedlicher Herkunft sowie ein „Vertreter“ für jede der 15 Regionen des Landes, samt zwei Parlamentsabgeordneten, aber kein Mitglied aus der Justiz, präsent sind. Bis 1933 gelang es nicht, dieses Modell fertigzustellen, und erst im folgenden Jahr begann der Gerichtshof, seine Kompetenzen auszuüben. Es ist jedoch zu verzeichnen, dass dieses Verfassungsgericht in nur zwei Jahren und in einem politischen Kontext enormer Konfrontation, insbesondere zwischen dem Staat und der autonomen Region Katalonien, eine beachtenswerte Rechtsprechung entwickelte.[168] Zwei Jahre später bedeutet der Ausbruch des Bürgerkriegs zwar nicht das Ende der Republik, wohl aber die Lähmung des Gerichtshofs.[169]
dd) Liechtenstein (1925)
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Schließlich ist es ein Kleinstaat, das Fürstentum Liechtenstein, der seit 1925 ununterbrochen ein letztes Beispiel der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit in dieser Periode darbietet. Art. 104 der am 5. Oktober 1921 verabschiedeten Verfassung samt eines Gesetzes vom 14. Dezember 1925 gestalten einen „Staatsgerichtshof“, der seinen Zuständigkeiten zufolge ein Verfassungsgericht im wahren Sinne des Wortes ist. Als solches übt er sowohl eine abstrakte wie eine inzidente Normenkontrolle aus. Wie im Fall Österreichs schon gesehen, nimmt der Gerichtshof die authentische Auslegung der Verfassung bei Unstimmigkeiten zwischen Regierung und Landtag vor. Darüber hinaus ist er zuständig, über Individualbeschwerden zum Schutz der Grundrechte zu entscheiden.[170] Ungeachtet der begrenzten Tätigkeit dieses Gerichtshofs während dieser Periode ist Liechtenstein unter anderem deshalb interessant, weil es erstmals eine inzidente Normenkontrolle generell gestaltet.
d) Bilanz der Zwischenkriegszeit
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Die zwei Jahrzehnte der europäischen Zwischenkriegszeit stellen, was die normative Verfassung und ihre gerichtliche Garantie betrifft, alles andere als einen Siegeszug dar. Doch trotz des unglücklichen Endes dieser ersten Erfahrungen mit der konzentrierten Normenkontrolle, ist die Erinnerung an einen acquis constitutionnel geblieben, die sich zum Zeitpunkt der Rückkehr der Verfassungen im europäischen Raum 1945 als lebendig erweisen wird. Im Jahre 1939, als die Verfassungsstaatlichkeit in weiten Teilen des Kontinents der Gewalt zum Opfer gefallen war, ist die Überzeugung im europäischen Verfassungsdenken weithin verankert, dass keine Alternative zur Normativität der Verfassung und ihrer gerichtlichen Gewährleistung vorhanden sei. Zu dieser Periode gehören viele enttäuschende Erfahrungen auf der Suche nach einem europäischen Weg zur normativen Verfassung, aber es scheint im Unterbewusstsein die Vorstellung lebendig geblieben zu sein, dass der Hüter der Verfassung kelsenianischer Prägung einen erneuten Versuch im europäischen Rechtsraum wert sei.
2. Konstante Ausbreitung der Verfassungsgerichte in Westeuropa (1945–1989)
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Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt eine lange Zeitspanne, die bis Ende 1989 anhält, dem Jahr der Wiederbegegnung der europäischen Staaten in einem gemeinsamen Verfassungsraum. Für die Verfassungsgerichtsbarkeit ist dies die Zeit der Verankerung der konzentrierten Normenkontrolle more austriaco. Vorbei sind die gescheiterten Versuche der vorigen Periode, sei es aus überwiegend exogenen (Österreich), endogenen (Tschechoslowakei) oder einfach beiden (Spanien) Gründen. Das neue System erscheint nun fest in den jeweiligen Verfassungsordnungen verankert, ohne die Rückschläge bzw. Anfälligkeiten der Zwischenkriegszeit. Diese neue Zeit lässt sich leicht in vier Etappen ordnen. Die Schlussbilanz wird, im Vergleich zur vorherigen Periode, vollkommen anders aussehen.
a) Die Nachkriegszeit: Verfassungsrestaurierung und Verfassungsneuschöpfung
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Die verfassunggebende Tätigkeit der zweiten Nachkriegszeit (1945-1956) ist weniger intensiv als die vorherige, vor allem, weil weniger Staaten neu entstehen oder wieder entstehen. Nach einer kurzen Zeit von formell freiheitlichen Verfassungen[171] geht für viele Jahre die östliche Hälfte Europas für die Verfassungsstaatlichkeit verloren. Der europäische Verfassungsraum wird für Jahrzehnte auf die westliche Hälfte des Kontinents beschränkt sein, und auch das nur unvollständig.[172] Die Zeit der Verfassunggebung ist an erster Stelle für die Besiegten gekommen, Deutschland und Italien. Beide Staaten übernehmen zwischen 1948 und 1956 das von Österreich vor 1939 eingeführte System der Verfassungsgerichtsbarkeit.[173] Die