Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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grundsätzlich die Alternative zwischen einer politischen und einer gerichtlichen Garantie der verfassungsmäßigen Machtverteilung besonders relevant. Wenn es sich um einen Streit zwischen politischen Gremien handelt, bietet es sich spontan an, die Beilegung einem ebenfalls politischen Dritten zu übertragen. Dies war in begrenztem Umfang der Fall in Deutschland unter der Reichsverfassung von 1871,[78] sowie in der Schweiz unter der Bundesverfassung von 1848. Jedenfalls ist die Entscheidung für eine gerichtliche Garantie niemals Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern erfordert vielmehr eine ausdrückliche entsprechende Bestimmung.

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      Zweitens führt dieser zweite Entwicklungspfad der Verfassungsgerichtsbarkeit, zusammen mit der „Bürgergerichtsbarkeit“, im letzten Drittel des Jahrhunderts zur ersten autonomen organischen Ausgestaltung und/oder den ersten eigenständigen Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit. In Österreich schafft die „Dezemberverfassung“ ein in seiner Art einzigartiges Reichsgericht mit einer Vielzahl von verfassungsrechtlichen Kompetenzen, insbesondere in Bezug auf Verfassungsstreitigkeiten. In der Schweizerischen Eidgenossenschaft wurde das seit 1848 bestehende Bundesgericht 1874 als oberstes Bundesgericht für alle Gerichtszweige bestätigt und ein besonderes Verfahren für territoriale Streitigkeiten (staatsrechtliche Klage) geschaffen.

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      Beschränkt man die Behandlung der Organstreitigkeiten auf Konflikte zwischen Legislative und Exekutive, so scheint die Möglichkeit der Einführung eines Rechtsprechungsmechanismus im Rahmen der konstitutionellen Monarchie erneut fraglich. Die Verfassung hat während des größten Teils des betrachteten Zeitraums den Charakter eines bilateralen „Pakts“ zwischen dem Monarchen und der nationalen Vertretung. Charakteristisch für diesen dualen Konstitutionalismus ist, dass die Einhaltung dieses Paktes bis auf wenige Ausnahmen den Parteien selbst übertragen ist. Sie selbst müssen eine Konfliktlösung durch Mechanismen finden, die im Wesentlichen politisch sind. In diesem Modell, das von der Spannung zwischen zwei grundlegenden konstitutionellen Gewalten geprägt ist, bleibt wenig Raum für Gerichtsbarkeit und viel Raum für Konflikte.[80] Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der vierjährige preußische Budgetkonflikt von 1862 bis 1866 zwischen der Exekutive unter dem Vorsitz von Kanzler Bismarck und dem Parlament; der Konflikt wurde schlichtweg nicht gelöst, obwohl er politisch zum Sieg der Exekutive führte.[81]

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      In diesem Zusammenhang und für lange Zeit ist das einzig nennenswerte Institut die Ministeranklage, das allerdings dem Begriff Organstreitigkeiten nicht völlig entspricht. Während dieser Periode sehen die monarchischen Verfassungen sehr häufig einen Mechanismus vor, nach dem die Minister des Königs, der selbst unverletzlich ist und nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, – auch strafrechtlich – zur Rechenschaft gezogen werden können: also ein Verfahren, in dem ein Minister angeklagt und aus dem Amt entfernt werden kann. Das Verfahren kann typischerweise in eine Anklage- und eine Verurteilungsphase unterteilt werden. Allerdings wurden diese Mechanismen selten benutzt und waren noch seltener erfolgreich.[82]

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      Die Einrichtung eines besonderen Gerichts, des Reichsgerichts, mit verfassungsgerichtlichen Befugnissen in der Dezemberverfassung von Österreich,[83] führte zur Institutionalisierung einiger Varianten von Organstreitverfahren, insbesondere zur Abgrenzung der jeweiligen Bereiche von Verwaltung und Justiz, oder ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit.[84] Die Deutsche Reichsverfassung von 1871 (Art. 76) setzt ihrerseits ein politisches Organ, den Bundesrat, zur Konfliktlösung zwischen Organen in den Ländern ein, deren Verfassung keine entsprechende Bestimmung enthält.

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      Die wenigen Staaten im europäischen Rechtsraum mit föderalen oder ähnlichen Strukturen führen gegen Ende der hier behandelten Periode verschiedene Mechanismen zur gerichtlichen Beilegung von territorialen Konflikten durch ein besonderes Rechtsprechungsorgan ein. Dazu gehört aber nicht die Verfassung des Deutschen Reichs von 1871, deren bereits zitierter Art. 76 einen auf Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten begrenzten politischen Lösungsmechanismus vorsieht.[85]

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      In Österreich entscheidet das oben genannte Reichsgericht die sogenannten Kompetenzkonflikte zwischen dem Staat und seinen territorialen Komponenten oder zwischen diesen. Es ist allerdings erwähnenswert, dass die Reichsgerichtsurteile nur deklaratorischen Charakter haben. Keine Lösung findet bis zum Ende dieser Periode die Frage eines möglichen Konflikts zwischen einem Reichsgesetz und den Gesetzen der Reichsländer, da beide vom Kaiser sanktioniert werden.[86]

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      Die Schweizerische Bundesverfassung von 1874 festigt die Position des durch die Verfassung von 1848 geschaffenen Bundesgerichts. Im Gegensatz zum österreichischen Reichsgericht hat das Bundesgericht den Charakter eines obersten Gerichtshofs und die Zuständigkeit zur verbindlichen Auslegung des gesamten Bundesrechts. Unabhängig davon wurden ihm zwei weitere wesentliche Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit übertragen, föderale Konflikte zwischen Bund und Kantonen (staatsrechtliche Klage) und, im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung, die Rechtsmittel des Einzelnen zur Verteidigung seiner verfassungsmäßigen Rechte, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird. Zunächst soll die erste dieser Kompetenzen kurz dargestellt werden.

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      Mit der Verfassung von 1874 wurde die Zuständigkeit zur Entscheidung über Konflikte zwischen Bund und Kantonen oder zwischen Kantonen von der Bundesversammlung auf das Bundesgericht übertragen (Klageverfahren).[87] Dabei ist die unterschiedliche Stellung von Bundesgesetzen und Kantonsgesetzen zu berücksichtigen: Wie bereits erwähnt, gilt in der Schweiz die „Maßgeblichkeit“ der Bundesgesetze.

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      Als dritter Entwicklungspfad der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa gestaltet sich die Garantie der Grundrechte etwas beständiger als die beiden vorherigen. Auch hier hat man es wieder mit einem eigenständigen Entwicklungspfad zu tun, der sich qualitativ von den vorigen unterscheidet. Materiell ergibt sich seine Eigenart aus dem hier in Frage kommenden Teil der Verfassung, dem Grundrechteteil. In diesem Sinne kann man von „Grundrechte-Gerichtsbarkeit“ sprechen. Der Ausdruck „Grundrechte“ selbst stammt bekanntlich aus der Paulskirchenverfassung und wird bisweilen bereits in dieser Epoche verwendet. Die Option zugunsten des Begriffs „Grundrechte“ bedarf keiner weiteren Erklärung. Es stimmt, dass sie in der betreffenden Periode nur in der bereits erwähnten „Paulskirchenverfassung“[88] (sowie im ebenfalls erwähnten „Kremsier-Verfassungsentwurf“ für Österreich[89]) erscheint. Die bevorzugten Begriffe während der gesamten Periode sind sehr unterschiedlich, und in der Tat ist für den gerichtlichen Schutz für Österreich und die Schweiz der bevorzugte Begriff „in der Verfassung anerkannte Rechte“.[90] Es ist jedoch der Begriff, der in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im europäischen Verfassungsraum vorherrschen wird, wie heutzutage aus der Bezeichnung der EU-Charta der Grundrechte ersichtlich hervorgeht.

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      Die Eigenart der Grundrechte-Gerichtsbarkeit ist aber insbesondere verfahrensrechtlicher Natur. Diesem Entwicklungspfad der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa ist das Vorhandensein eines prozeduralen Rechtsmittels eigen, das die Form eines individuellen Rechtsmittels oder einer Verfassungsbeschwerde annimmt, die dem Einzelnen zur Geltendmachung seiner Grundrechte zur Verfügung steht.[91] Aus dieser Perspektive wird dieses Kapitel der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Begriff „Bürgergerichtsbarkeit“ behandelt.[92] Zwar ist die Einrichtung eines besonderen Gerichts nicht unbedingt erforderlich. Entscheidend ist vor allem das Vorliegen eines speziellen


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