Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

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vom 16.–24. August 1790 verbietet Richtern kategorisch die Gesetzesprüfung.[62] Diese Bestimmung sollte – auf ein in Kraft stehendes Gesetz bezogen – während der gesamten Verfassungsgeschichte Frankreichs[63] unangetastet bleiben, bis hin zur Einführung der question prioritaire de constitutionnalité im Jahre 2008.[64] Auf diese Bestimmung wird im gesamten europäischen Raum immer Bezug genommen, wenn die Frage im Kontext des Schweigens einer Verfassung zu dieser Frage auftritt.

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      Zur Erklärung könnte man diese Situation vielleicht auf das Prinzip der Gewaltenteilung zurückführen, aber das ist ein Argument, das mit der Verbreitung des parlamentarischen Systems auf dem Kontinent an Kraft verliert. Der wahre Grund liegt in der Überzeugung, dass, nach der Überwindung der konstitutionellen Monarchie, das Parlament per se als Vertreter der Nation der natürliche Hüter der Verfassung ist. Es ist also nicht so, dass der Richter einfach nur unbefugt wäre, ein verfassungswidriges Gesetz unangewendet zu lassen. Vielmehr ist das Gesetz als solches die Norm, welche die Verfassung am besten ausdrückt. Dies erklärt auch, warum kein Bedürfnis für ein ausdrückliches Prüfungsverbot besteht, so dass nur bei einer entsprechenden ausdrücklichen Verfassungsbestimmung die Gerichte zur Kontrolle der Gesetze befugt sind.[65] Schließlich wird es nicht die Dritte Republik sein, die in ihrer langen Existenz auf der Grundlage ihrer Verfassungsgesetze von 1875 die Situation ändern wird:[66] Im Frankreich des 20. Jahrhunderts lebt die Frage, allerdings mit wachsender Insistenz, nur noch in der Wissenschaft weiter.[67]

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      In diesem allgemeinen Kontext des stillschweigenden Verbots der Gesetzeskontrolle gibt es jedoch einige Beispiele für ein ausdrückliches Prüfungsverbot, jeweils mit besonderen Eigenheiten. So kombiniert die Schweizerische Bundesverfassung von 1874 ein ausdrückliches Prüfungsverbot in Bezug auf Bundesgesetze (sogenannte Maßgeblichkeit des Bundesrechts) mit der obligatorischen Prüfung der Bundesverfassungsmäßigkeit der Kantonsverfassungen (Gewährleistungsentscheid) sowie der richterlichen Prüfung der kantonalen Gesetze. Hier wird die Kombination von Verbot und Befugnis nicht so sehr durch etwaige Elemente der direkten Demokratie – die bei kantonalen Gesetzen keine Rolle spielen – sondern vielmehr durch die Vorrangstellung des Bundesrechts gegenüber kantonalem Recht bedingt.[68] Die Niederlande ihrerseits kombinieren ein traditionelles (seit 1848) ausdrückliches Verbot der Verfassungsmäßigkeitskontrolle (gronwettigheid) mit einer ebenso alten Unterordnung von Parlamentsgesetzen unter das Völkerrecht. Gleichwohl ist das Verbot des richterlichen Prüfungsrechts Gegenstand einer ständigen Diskussion in der niederländischen Wissenschaft und Politik.[69] In Österreich schließlich verbindet Artikel 7 des Staatsgrundgesetzes von 1867 über die Gerichtsbarkeit die ausdrückliche Befugnis zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Verordnungen mit einem ausdrücklichen Verbot der Kontrolle „gehörig kundgemachter Gesetze“.[70]

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      Norwegen und Finnland bieten zwei gegenläufige Erfahrungen, in denen das richterliche Prüfungsrecht sich zu behaupten vermag. Obwohl sie keine unabhängigen Staaten waren und unter der Herrschaft ausländischer Monarchen standen, genossen beide im 19. Jahrhundert ein Selbstverwaltungsregime,[71] das einer besonderen normativen Stärke ihrer jeweiligen Verfassung zugute kam. So verfügte Norwegen, nachdem es den schwedischen Monarchen akzeptieren musste, mit seiner fortbestehenden Verfassung von 1814 über ein strategisches Instrument seiner Selbstverwaltung. In einem Umfeld, in dem der bereits erwähnte Torkel H. Aschehoug eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des nordamerikanischen Konstitutionalismus spielt, sehen sich die Gerichte befugt, verfassungswidrige Gesetze außer Acht zu lassen, was auch tatsächlich geschieht.[72] Im Falle Finnlands konstatiert man eine ähnliche Entwicklung. Von Schweden getrennt und 1809 in Form eines mit Selbstverwaltung ausgestatteten Großherzogtums in das Zarenreich eingegliedert, machte Alexander I. durch die Anerkennung der „Grundgesetze“ und der „Verfassung“ des Großherzogtums (worunter die schwedische Verfassung, wie sie 1809 bestand, zu verstehen war) diese erneut zu einem entscheidenden Faktor für die Bestätigung der Selbstverwaltung. Im Jahr 1869 legt die Parlamentsordnung ein Verfahren zur Verfassungsreform fest, das im Zusammenhang mit den sogenannten „Notstandsgesetzen“ von erheblicher Bedeutung ist. Zu dieser Zeit wurde es gebräuchlich, einen oft mit Professoren besetzten Rechtsausschuss zur Beratung über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzentwürfen einzubeziehen, der im Laufe der Jahre bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen eine zentrale Rolle einnehmen sollte.[73]

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      Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah die Verfassung der erst kürzlich ausgerufenen Portugiesischen Republik vom 21. August 1911 einen singulären Fall der diffusen Gesetzeskontrolle auf Antrag einer der Parteien in einem konkreten Rechtsstreit mit entsprechender inter partes Wirkung (Art. 63) vor. Der transatlantische Einfluss, hier durch Brasilien, ist eindeutig. Auf diese Weise wurde die unter der Monarchie fortlaufend debattierte Frage der Prüfung der Notstandsgesetzgebung (Decretos Ditatoriais) nun auf die Prüfung der Parlamentsgesetze ausgedehnt.[74]

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      Neben dem richterlichen Prüfungsrecht findet die Verfassungsgerichtsbarkeit Eingang in den europäischen Raum in Form einiger beachtenswerter Mechanismen zur gerichtlichen Lösung verschiedenartiger Verfassungskonflikte. Da die Verfassung prinzipiell eine Norm für die Kompetenzverteilung zwischen den Staatsgewalten mit mehr oder weniger abstrakt definierten Funktionen beinhaltet, ist sie auch immer eine mögliche Quelle für Konflikte oder Rechtsstreitigkeiten. Diese können hier allgemein als Verfassungsstreitigkeiten bezeichnet werden.[76] Alternativ kann der Begriff „Staatsgerichtsbarkeit“[77] aufgrund seiner abstrakten Begrifflichkeit auch dazu dienen, den Gegensatz zum dritten der vorgeschlagenen Entwicklungspfade zu verdeutlichen, nämlich dem der „Bürgergerichtsbarkeit“.

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      Bezüglich seiner Eigenschaften handelt es sich um einen parallelen und autonomen Entwicklungspfad, der sich qualitativ von dem vorherigen, der gerichtlichen Kontrolle von Gesetzen, unterscheidet. Die Verfassung tritt hier nicht vorwiegend als eine Norm in Erscheinung, die sich aufgrund ihres höheren Wertes erfolgreich gegenüber anderen Normen durchzusetzen vermag. Sie nimmt stattdessen vor allem den Charakter einer „Spielregel“ in den Beziehungen zwischen einer Vielzahl von politischen Instanzen an, völlig unabhängig vom rechtlichen oder politischen Charakter der jeweiligen Gewalten. Mehr noch, sie erscheint in diesen Fällen als das einzig relevante Recht zur Beilegung von diesen Streitigkeiten. Das bedeutet, dass es keinesfalls mehr darum geht, ein Schweigen der Verfassung zu interpretieren. All dies erklärt, warum die Staatsgerichtsbarkeit immer eine ausdrückliche Bestimmung in der Verfassung erfordert, so dass sie nicht auf einem noch zu interpretierendem Schweigen beruhen kann.

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      Wenn es um die politischen Organe geht, die in Konflikt geraten können, so kommt eine summa divisio ins Spiel: Auf der einen Seite gibt es Streitigkeiten oder Konflikte, die, unabhängig vom Typ der Verfassung, alle drei Staatsgewalten betreffen können; sie werden als horizontale Konflikte oder Organstreitigkeiten bezeichnet (Verfassungsorganstreit); auf der anderen Seite gibt es Streitigkeiten, die in „zusammengesetzten“ Staaten entstehen können, d.h. in Staaten, in denen die verschiedenen Funktionen zwischen einer zentralen Instanz und einer Vielzahl von Territorialinstanzen verteilt sind: d.h. föderale oder ähnlich aufgebaute Staaten (föderale Streitigkeiten). Letztere bilden eine klare Minderheit auf dem Kontinent und kommen praktisch nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor. Bevor sie im Einzelnen behandelt werden, sind zwei Bemerkungen vorauszuschicken.


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