Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes
entstehen und entwickeln sich eigenständig. Erst am Ende dieser Periode bieten sich zwei Beispiele für die Schaffung eines Organs, in dem verschiedene Formen der Gerichtsbarkeit über Verfassungskonflikte und der gerichtlichen Gewährleistung der individuellen Rechte zusammenfließen: das Österreichische Reichsgericht und das Schweizer Bundesgericht.[49]
a) Eine fortdauernde Frage
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Ein hypothetischer externer Beobachter, der in der Vergangenheit oder auch in der Gegenwart die Grundausrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa verstehen möchte, müsste sich nur die folgende Frage stellen: Haben die Richter in Europa die Befugnis, wenn nicht gar die Pflicht, ein verfassungswidriges Gesetz anlässlich der Beilegung eines konkreten Rechtsstreits zu ignorieren? So einfach die Frage auch erscheinen mag, umso komplizierter ist die Antwort. Wenn dieser Beobachter jedoch das Glück hätte, eine angemessene Antwort zu erhalten, so hätte er allein schon damit viel erfahren, und zwar nicht nur über den Status der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auch über den der Verfassung selbst, immer bezogen auf den europäischen Raum.
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Denn dies ist eine Frage, die sich vor allem die Europäer selbst häufig stellen, sei es in ihrer Eigenschaft als Richter oder als Rechtspraktiker bzw. -theoretiker.[50] Die Frage ergibt sich aus dem Text der Verfassung selbst, nämlich dem Schweigen, das die Verfassung in den meisten Fällen in dieser Hinsicht bewahrt. Es ist ein Schweigen, das angesichts seiner sachlichen Relevanz interpretiert werden muss. Allerdings schweigt die Verfassung nicht immer: Es gibt Ausnahmen, wie sich zeigen wird, die in einigen Fällen ein ausdrückliches Verbot des richterlichen Prüfungsrechts verfügen, in einigen wenigen Fällen jedoch die Pflicht zur richterlichen Gesetzeskontrolle vorsehen.
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An dieser Stelle ist zu untersuchen, wie sich diese Frage zeitlich – sogar jenseits der uns hier beschäftigenden Periode – und räumlich – auf dem gesamten Kontinent – bewährt. Das ist erforderlich, weil die scheinbar spontanste, nämlich bejahende Antwort, von dauerhaften Schwierigkeiten oder Einwänden sehr unterschiedlicher Art begleitet ist. Selbst am Ende dieser Entwicklung, wenn die eindeutig positive Antwort schließlich aus der Verfassung selbst kommt, wird sie, in ihrer europäischen Variante, nur durch eine organische und funktionale Regelung realisiert, die mit allerlei Bedingungen und Vorbehalten umgeben wird: das europäische System der Verfassungsgerichtsbarkeit. Kurz gesagt, schon die Idee der Verfassung verlangt, dass jedes parlamentarische Gesetz, das ihr widersprechen könnte, als null und nichtig betrachtet wird, wobei dennoch Umstände verschiedener Art dazu beitragen, diese scheinbar einfache Folge zu verhindern. Dieses Phänomen verlangt daher eine Erklärung.
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Die Schwierigkeiten, die durch das richterliche Prüfungsrecht im europäischen Ottocento zu überwinden sind, lassen sich auf zwei sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen bedeutsame Aspekte reduzieren: die zunächst vorherrschende Doppelstruktur des Verfassungsmodells der konstitutionellen Monarchie, die hier als „monarchische Schwierigkeit“ bezeichnet wird, und das fortbestehende Konzept der nationalen Repräsentation als natürlichem Verteidiger der Verfassung mit Vorrang vor allen anderen Gewalten, die hier als „nationale Schwierigkeit“ bezeichnet wird. Die erste dieser Schwierigkeiten kann mit dem Ende des jetzt analysierten Zeitraums als überwunden angesehen werden. Die zweite wird bis weit ins 20. Jahrhundert fortbestehen.
b) Die monarchische Schwierigkeit
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Aus unterschiedlichen Gründen ist man sich heute einig, dass es aus prinzipiellen oder strukturellen Gründen unmöglich ist, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen unter den verschiedenen Varianten, die das Modell der konstitutionellen Monarchie in Europa annimmt, gerichtlich zu prüfen.[51] Bei der Darlegung dieser These werden vor allem die verschiedenen Konfigurationen der im deutschen Verfassungsraum geltenden Verfassungen berücksichtigt,[52] die aber auch für die Staaten im Süden Europas gelten.[53] Sowohl die paktierten wie die oktroyierten Verfassungen sind durch ein System der Verteilung der legislativen Gewalt zwischen dem Monarchen und der nationalen Vertretung gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang erweist sich das Bestehen der königlichen Sanktion der Gesetze in diesen Verfassungsformen während des gesamten Zeitraums als dysfunktional. Auch das Vorhandensein eines besonderen Verfahrens zur Revision der Verfassung, das sich vom Gesetz unterscheidet, erscheint letztlich sinnlos. Die Vorstellung, dass die Verfassung nicht der apex, sondern einfach Bestandteil des Rechtssystems sein könnte, ist enorm schwach, mit offensichtlichen Folgen für den Gedanken einer eventuellen direkten Anwendung der Verfassung.
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Allerdings gibt es eine theoretische Tradition des liberalen Konstitutionalismus im umgekehrten Sinne, selbst in diesem Raum, in der das Schicksal von eventuell „verfassungswidrigen“ Gesetzen nicht zweifelhaft ist: schon an dieser Stelle ist der Name Robert von Mohl als eines der repräsentativsten Vertreter dieser Auffassung im deutschsprachigen Raum zu nennen.[54] Aber es gibt weitere bedeutende Namen in dieser Strömung, die in ihren jeweiligen Ländern äußerst einflussreich sind: Johan Rudolph Thorbecke in Holland,[55] Torkel H. Aschehoug in Norwegen,[56] wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg bei der Einflussnahme auf die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrem jeweiligen Land.
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In diesem Zusammenhang verdient jedoch ein, allerdings wenig verbreitetes, Verfassungsmodell besondere Erwähnung, sowohl um seiner selbst willen als auch wegen seiner Fähigkeit, das als Regel erscheinende Modell zu erklären: nämlich der Fall von Verfassungen, die als Grundlage eines neuen Staates dienen, einschließlich der Einsetzung eines Monarchen als dessen Staatsoberhaupt. Der bekannteste Fall ist der der belgischen Verfassung von 1831, die mit der Erklärung Belgiens als unabhängiger Staat zusammenfällt.[57] Hier wird nicht die Verfassung vom Monarchen, sondern der Monarch von der Verfassung eingesetzt.[58]
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Es sollte daher nicht überraschen, dass im Falle Belgiens die Verfassung seit Anbeginn als Teil der Rechtsordnung angesehen wird: Die Cour de cassation prüft von Anfang an die Verfassungsmäßigkeit der von den Gerichten erlassenen Urteile im Hinblick auf ihre ausreichende Begründung (Art. 149 BV). Die Prüfung der Rechtmäßigkeit – einschliesslich der Verfassungsmäßigkeit – der Verordnungen der Exekutive ist Ausdruck der Normativität der Verfassung (Art. 159 BV).[59] Und seit Anbeginn besteht dort eine Kultur der normativen Verfassung, die der ihrer Nachbarländer weit überlegen ist.[60]
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Auf dieser Grundlage hat die Erklärung des Umstandes, dass die Gerichte sich für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen für unzuständig halten, nicht so sehr prinzipielle Ursachen, sondern hat eher mit der zweiten der genannten Schwierigkeiten zu tun. Nochmals verdeutlicht der Fall Belgiens diese Schwierigkeit: Die Verfassung ist zweifelsohne normativ, ist älter als und steht über den Staatsgewalten, und dennoch gilt über mehr als ein Jahrhundert der Entscheid der Cour de cassation vom 23. Juli 1849, der die ausschließliche Zuständigkeit des Gesetzgebers zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und das entsprechende richterliche Prüfungsverbot proklamierte.[61]
c) Die nationale Schwierigkeit
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Die ausnahmsweise Überwindung der monarchischen Schwierigkeit in einigen Staaten nützt, wie gesehen, nur wenig, solange eine andere Schwierigkeit nicht gelöst ist, die als nationale Schwierigkeit bezeichnet werden kann, denn die Bezeichnung demokratische Schwierigkeit wäre noch verfrüht. In Wirklichkeit bestand diese Schwierigkeit chronologisch gesehen schon