Handbuch Ius Publicum Europaeum. Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica  Claes


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erste 1885 erschienene Auflage des bekanntesten Werkes von A. V. Dicey enthält eine „Anmerkung“, in der er eine entmutigende Bewertung des europäischen Konstitutionalismus vor dem Großen Krieg aus der hier behandelten normativen Perspektive vornimmt. Hierin stellt er drei mögliche Auffassungen des Begriffs des „verfassungswidrigen Gesetzes“ in der jeweiligen Rechtsordnung dar. So sei in England ein Gesetz verfassungswidrig, wenn es dem „Geist der englischen Verfassung“ widerspricht, was aber nicht bedeutet, dass es rechtswidrig oder nichtig ist. Ähnlich sei es, zweitens, in Frankreich, wo das Epithet „verfassungswidrig“ „wahrscheinlich“ nur den Sinn eines Tadels aufweist, also ohne konkrete Folge, „da es keineswegs sicher ist, dass ein französischer Richter die Anwendung eines Gesetzes ablehnt, weil es verfassungswidrig ist“. Nur im dritten Fall, in Bezug auf ein Gesetz des Kongresses der Vereinigten Staaten, sei ein Gesetz, das ultra vires ergangen ist, nichtig.[107] Diese Anmerkung drückt die allgemeine Situation des europäischen Konstitutionalismus am Ende dieser Periode aus.

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      Gleichzeitig, ebenfalls im Jahr 1885, jedoch auf der anderen Seite des Kanals, bringt Georg Jellinek[108] die Idee eines Verfassungsgerichts „für Österreich“ auf den Weg, das sich in Wirklichkeit als Verfassungsgericht für Europa erweisen wird. Das von ihm vorgeschlagene Modell verkörpert nämlich im Wesentlichen das System der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit, d.h. die europäische Antwort auf die ungelöste Frage nach der Normativität und Justiziabilität der Verfassung.[109]

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      Möglich ist dies, weil bereits 1885 die Grundelemente der Verfassungsgerichtsbarkeit klar erkannt werden. Interessant ist jedoch, dass in den drei darauffolgenden Jahrzehnten, trotz bedeutender Veränderungen in Europa,[110] nur sehr geringe Änderungen im Text der nationalen Verfassungen vorgenommen werden. Formell betrachtet, ist es eine Zeit der konstitutionellen Stabilität im europäischen Raum, in dem Sinne, dass es Jahrzehnte sind, in denen sich die jeweiligen Verfassungstexte fest etablieren. So insbesondere die österreichischen Verfassungsgesetze von 1867, die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871, die Schweizerische Bundesverfassung von 1874, oder endlich die französischen Verfassungsgesetze von 1875, ohne einige relevante monarchische Verfassungen derselben Periode zu vergessen. Und doch verändert sich Europa in diesen drei Jahrzehnten in jeder Hinsicht, politisch, sozial, wirtschaftlich, kulturell und wissenschaftlich: Der Erste Weltkrieg bringt das, was verfassungsrechtlich ein Kartenhaus war, brutal zum Einsturz. 1918 wird somit die Gelegenheit bieten, den Beitrag von Georg Jellinek wieder aufzugreifen.[111]

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      Die historische Zeitspanne von 1918 bis zum Jahrhundertende ist die Periode, in der sich Europa Schritt für Schritt europäisiert: Zumindest könnte man dies mit Bezug auf ein so spezifisches Phänomen wie die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den neunzig Jahren, die hier betrachtet werden, sagen. Wichtig ist, diese Periode, trotz der großen Einschnitte von 1945 und 1989, als Ganzes in den Blick zu nehmen, denn nur so ist es möglich, diese Entwicklung als europäische Errungenschaft einzustufen, was sie auch ist: die der normativen Verfassung. Die Institute, die den abstrakten Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit umschreiben, sind diejenigen, die in der vorhergehenden Periode unabhängig voneinander entstanden sind: Normenkontrolle, Verfassungskonflikte und Individualbeschwerde. Sie werden nun alle unter einem Dach vereint, das sie der Kategorie der Verfassungsgerichtsbarkeit zuordnet. In diesem funktionalen Ansatz nimmt ein organischer Faktor eine nicht unerhebliche Stellung ein: Das Entstehen eines der Funktion entsprechenden Gerichts, das auch diesen Namen führt, ein „Verfassungsgericht“. Nachdem dieses Organ einmal konzipiert war, sollte es auch kein Problem mehr darstellen, ihm die Verfassungsgerichtsbarkeit in abstrakter Formulierung zu übertragen. All dies wird durch den Umstand verstärkt, dass diese Periode im Unterschied zur vorherigen von Konvergenz, Gleichzeitigkeit der Veränderungen und Beschleunigung geprägt ist. Es sollte daher nicht überraschen, dass es sich um eine Periode des ständigen und wachsenden Rückgriffs auf die Rechtsvergleichung handelt, sowohl innerhalb als auch außerhalb[112] des europäischen Raums.[113]

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      Was das Verfassungsrecht betrifft, sind die Zeiten so schwierig, dass man geneigt wäre, das Augenmerk auf andere Institute, insbesondere die des Ausnahmezustandes, zu richten. Und doch zeigen sich in diesen beiden Jahrzehnten die ersten Formen eines Modus, die normative Verfassung zu gewährleisten, der im Laufe der Zeit einen unerwarteten Erfolg im europäischen Raum haben wird. Seine Bedeutung ist sowohl praktischer als auch theoretischer Natur.[114] Die Verfassungsgerichtsbarkeit erreicht jetzt das Herz Europas, und zwar von Europa aus, d.h. nur zu einem sehr geringen Teil als Import aus Amerika: es ist ein Phänomen, das viel Optimismus und Autopoiesis ausstrahlt.[115] Es handelt sich zwar um eine Phase der Kreativität, jedoch dürfen die Elemente der Kontinuität nicht vergessen werden. Was den Kontext betrifft, so ist diese Zeit mehr als einfach eine Periode der Verfassunggebung,[116] denn sie ist für eine Reihe von Staaten der Moment ihrer Gründung, die sich aus dem Zerfall der kontinentalen Reiche ergibt. Die Republik in ihrer parlamentarischen Variante wird zur Regel anstatt zur Ausnahme: Europa ist nicht mehr fast ausschließlich monarchisch, was die Modernisierung der Debatte über die Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglicht. Mit noch begrenzten Fortschritten beim Frauenwahlrecht wird Europa vom gleichen und allgemeinen Wahlrecht erreicht, wiederum mit politischen und rechtlichen Konsequenzen für die Dialektik Verfassung/Gesetz: Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird, wie manchmal betont, grundsätzlich möglich.[117] Im Osten des euroasiatischen Kontinents, in einem Raum ohne erwähnenswerte verfassungsrechtliche Erfahrung, bildet sich eine Regierungsform heraus, die kaum beansprucht, sich als verfassungsgemäß zu geben.[118] Im übrigen ist es auch weiterhin die Zeit der europäischen Kolonialreiche, die als solche rechtliche Räume außerhalb des Kontinents schaffen, die weithin der Verfassung im materiellen Sinne fern bleiben.[119]

a) Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts: Kontinuitätslinien

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      Kontinuität ist der Schlüsselbegriff sowohl in den europäischen Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs, mit Großbritannien und Frankreich an der Spitze, als auch in den neutralen Ländern, wie unter anderen die Schweiz und die Niederlande. Dies ist der Raum der stabilen Verfassung. Die wegen ihres Einflusses bedeutendste nationale Bezugsgröße dieser Periode bildet die Dritte Französische Republik. Die Verfassung von 1875, mit den bereits bekannten Charakteristika, bleibt bis zum Ende der Periode dem Prinzip des Vorrangs des Gesetzes treu. Doch wird dieses Prinzip zunehmend in Frage gestellt. Während in den ersten Jahren der Republik deutlich Konsens über die Illegitimität der richterlichen Kontrolle herrscht, so mehren sich im Laufe des folgenden Jahrhunderts unaufhaltsam die Stimmen, die ein richterliches Prüfungsrecht unterstützen. Dies zeigt sich etwa in der Positionsänderung eines so repräsentativen Autors wie Charles Eisenmann, und das ist kein Einzelfall.[120] Bedeutend ist, dass die Frage des richterlichen Prüfungsrechts in Frankreich im Kontext verschiedener Forderungen nach einer „Reform des Staates“ in eindeutig antiparlamentarischem oder einfach antidemokratischem Sinn behandelt wird.[121] Besonders hervorzuheben ist im Gegensatz hierzu die Schrift des Rechtsvergleichers Édouart Lambert[122] „Le gouvernement des juges“. Dieses 1921, im genannten Umfeld der wachsenden Politisierung dieser Frage erschienene Werk ist im Wesentlichen, wenn auch nicht nur, eine Kritik an der unsozialen Rechtsprechung des Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten während der sogenannten Lochner Ära. Die enorme Wirkung dieses Werks machte es zu einem wahren Manifest gegen das richterliche Prüfungsrecht.


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