Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band. Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band - Hugo Friedländer


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zogen verschiedene Schubladen auf. In demselben Augenblick hörten wir schließen, und ein großer, starker Mann stand vor uns. Ob er guten Abend sagte, weiß ich nicht. Ich war jedenfalls furchtbar erschrocken. Ich glaubte bestimmt, nun werden wir gefaßt. Ich zog deshalb meine Browningpistole und schoß. Wie ich dazu kam, ist mir unbegreiflich. Ich ergriff die Flucht und fiel sehr bald hin. Mehrere Leute hoben mich auf und sagten, ob mir etwas passiert sei. Ich sagte, ich fühle mich unwohl. Dadurch gelang es mir, zu entkommen. Ich begab mich in meine Wohnung. Ich blieb die folgende Nacht auch in Magdeburg. Da Nitter nicht nach Hause kam, wußte ich, daß er gefaßt worden ist. Geschlafen habe ich vor Aufregung nicht einen Augenblick. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich vielleicht daneben geschossen oder den Mann nur verletzt hätte. Am folgenden Vormittag holte ich die Sachen von Nitter und nahm diese mit nach Berlin. Ich las in den Berliner Zeitungen, daß der Geschossene nur verletzt sei. Ich machte mich aber auf jeden Fall reisefertig. Ich hatte 800 Mark in Magdeburg bei mir. 400 Mark hatte ich bei der Deutschen Bank und eine Summe in meinem Koffer. Im ganzen hatte ich etwas über 3000 Mark. Ich fuhr am 28. Oktober nach Monte Carlo, von dort nach Lissabon, Madrid, Barcelona und schiffte mich nach Brasilien ein. In einem Café in Barcelona las ich in der »Kölnischen Zeitung«, daß der Apotheker gestorben sei.

      Vors.: Lasen Sie nicht auch Ihren Steckbrief?

      Angekl.: Den las ich erst drei Wochen vor meiner Verhaftung in Rio de Janeiro.

      Vors.:

      Sie behaupten also, Sie hatten nicht die Absicht, den Apotheker zu erschießen?

      Angekl.: Keineswegs, es tat mir sofort furchtbar leid, daß ich geschossen hatte. (Der Angeklagte brach hierbei in Tränen aus.)

      Vors.: Sie mußten sich aber doch sagen, wenn Sie auf den Mann schießen, dann ist die große Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Sie ihn erschießen.

      Angekl.: Überlegung hatte ich überhaupt nicht. Ich wollte auch nach den Beinen schießen, ich war aber so erregt, daß ich überhaupt kein Bewußtsein mehr hatte.

      Vors.: Wenn Sie nach den Beinen geschossen hätten, dann wäre es dem Manne möglich gewesen, um Hilfe zu schreien.

      Angekl.: Daran dachte ich nicht.

      Vors.: Wäre es nicht möglich gewesen, ohne Schuß zu entweichen?

      Angekl.: Herr Rathge war ein großer, starker Mann, der hätte uns doch wohl festgehalten.

      Nitter sagte hierauf auf Befragen des Vorsitzenden: Im großen und ganzen hat Knitelius den Vorgang richtig geschildert. So drastisch berlinisch habe ich mich aber nicht ausgedrückt. Die Herren werden schon gesehen haben, daß das gar nicht meine Art ist. Ob es möglich gewesen wäre, ohne Schuß zu entkommen, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, daß Knitelius nicht die Absicht hatte, den Apotheker zu erschießen.

      Vors.: Ist vielleicht vorher verabredet worden, sobald Sie überrascht werden, zu schießen?

      Nitter: Ausgeschlossen. Ich will noch bemerken, wenn es sich um einen Einbruchdiebstahl von Millionen gehandelt hätte, würde ich Knitelius nicht verraten haben. Es handelt sich aber um Menschenleben, da mußte ich schließlich ein offenes Geständnis ablegen. Fräulein Bethge erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Knitelius war sehr jähzornig, aber eine schlechte Tat, insbesondere einen Mord, hätte sie ihm niemals zugetraut.

      In derselben Weise äußerten sich noch mehrere Berliner Juwelenhändler, die seit langer Zeit mit dem Angeklagten bekannt waren. Die meisten dieser Leute schilderten den Angeklagten als sehr gutmütigen Menschen.

      Der Gerichtshof beschloß darauf, den Zeugen Nitter nicht zu vereidigen.

      Am siebenten Tage der Verhandlung nahm das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Schütte: Meine Herren Geschworenen! Nach einer langen, anstrengenden Verhandlung stehen wir heute am Ende eines Prozesses, der in der weiten Welt Interesse erregt hat, da er ein Bild vom internationalen Verbrechertum entrollte. Dieser Prozeß hat schließlich zu einem Erfolge geführt, wie ihn niemand geahnt hat. Wir sehen auf der einen Seite einen jungen Mann aus guter Familie, der vollständig unter dem Einfluß eines schweren Verbrechers stand, auf der anderen Seite den Angeklagten, der mit seltener Ruhe und Kaltblütigkeit sich verteidigt. Er leugnete alles, er kämpfte um seinen Kopf. Er verließ sich darauf, daß sein Freund und Komplice Nitter ihn retten werde. Er hatte sich zunächst nicht getäuscht. Endlich auf eindringliches Zureden eines Jugendfreundes entschloß sich Nitter, zumal er auch die Strafe des Meineids fürchtete, die volle Wahrheit zu sagen. Als dann der Angeklagte sah, daß ihn auch sein treuester Freund preisgegeben hatte, da bequemte er sich endlich am sechsten Tage der Verhandlung zu einem Zugeständnis, nicht zu einem Geständnis. Der Staatsanwalt schilderte alsdann in eingehender Weise den bekannten Vorgang vom 25. Oktober 1908. Der Angeklagte, so fuhr darauf der Staatsanwalt fort, wollte noch den Glauben hervorrufen, daß er ein gutmütiger Mensch sei. Er sagte, Nitter habe zunächst vorgeschlagen, in einen Zigarrenladen einzubrechen. Er habe aber gesagt: »Das will ich nicht, wir können doch nicht den armen Leuten die paar Pfennige wegnehmen.« Sie wollten hierauf in die Drogenhandlung von Musche einbrechen. Aber Herr Musche war zu Hause, da mußten sie davon Abstand nehmen. Alsdann kamen sie auf dem Breiten Weg an die Hirsch-Apotheke. Dort hing ein Plakat: »Von drei Uhr nachmittags ab geschlossen.« Der Angeklagte wollte aber, so versichert er, auch in die Apotheke nicht einbrechen. Nitter sagte jedoch: »Siehst du denn nicht, hier ist alles fort. Die Gelegenheit kann doch nicht günstiger sein. Du hast doch sonst Mut.« Diese Äußerung Nitters hätte ihn bewogen, in die Apotheke einzudringen. Ich komme nun noch einmal auf Nitter. Dieser junge Mann wollte Schauspieler werden, sein Vater wollte das aber nicht. Er kam deshalb zu Haasenstein & Vogler als Schreiberlehrling. Darauf wurde er Bureaugehilfe im Ostmarkenverein, alsdann Annoncen- und Abonnenten-Akquisiteur und schließlich Detektiv. Sehr bald wurde er mit dem Angeklagten bekannt. Sie haben gehört, Nitter war ein Prahlhans, dessen Zunge oftmals mit ihm durchging. Er zeigte ganz offen die Einbruchswerkzeuge. Er ist offenbar erst durch den unheimlichen Einfluß, den der Angeklagte auf ihn ausübte, zum Verbrecher geworden. Nitter sagte, ich sei schuld, daß er in Breslau unschuldig verurteilt wurde, weil ich ihn in der Verhandlung gegen ihn vor der Magdeburger Strafkammer einen durch und durch verdorbenen Menschen genannt habe, der schließlich für das Zuchthaus reif geworden sei. Ich bin aber der Ansicht, daß Nitter vielleicht noch einmal ein anständiger Mensch werden kann. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich von Nitter stets diese Ansicht gehabt habe. Nitter gab sich sogar dazu her, den Kriminalkommissar Klinghammer auszuhorchen. Er erklärte sich bereit, dem Kriminalkommissar über das Treiben des Knitelius Auskunft zu geben. Er hatte, wie er sagte, aber nur die Absicht, den Kriminalkommissar, und zwar in ausdrücklichem Auftrag von Knitelius, auszuhorchen, um zu erfahren, was die Kriminalpolizei gegen Knitelius für Maßnahmen im Auge hatte. Daraus ging doch klar hervor, daß der Angeklagte alle Ursache hatte, die Polizei zu fürchten. Nitter sagte ja auch zu einigen Leuten, er fürchte die Rache von Knitelius. Wenn er die Wahrheit sage, dann würde Knitelius pfeifen und er noch einmal angeklagt werden, denn sie haben noch mehr auf dem Kerbholz. Aber auch der Angeklagte ist aus anständiger Familie. Er hat jedoch frühzeitig in Kreisen gefährlicher Verbrecher verkehrt und als sehr junger Mensch viel Umgang mit der besseren weiblichen Halbwelt gehabt. Er hat stets eine geladene Schußwaffe getragen und war dringend verdächtig, sich an schweren Einbrüchen beteiligt zu haben. Er hat auch in Berlin fast ausschließlich in Lokalen verkehrt, wo die gefährlichen Verbrecher zu verkehren pflegen. Er hat niemals gearbeitet, sondern augenscheinlich Reisen bis nach Zürich unternommen, um Einbrüche zu verüben. Äußerst charakteristisch ist es, daß, als der Kriminalkommissar Klinghammer im »Café Westminster« an Knitelius herantrat und ihm eröffnete, daß er ihn verhaften müsse, Knitelius keineswegs erschrak, sondern mit größter Ruhe sagte: »Herr Kommissar, ich wollte in den nächsten Tagen auf alle Fälle zu Ihnen aufs Präsidium kommen.« Das tut kein Mensch, dessen Leben fleckenlos ist. Der Angeklagte galt auch in Berliner Verbrecherkreisen als internationaler reisender Einbrecher. Charakteristisch ist auch, daß der Angeklagte mit seinem Komplicen Nitter in der belebtesten Straße Magdeburgs Sonntag nachmittags in eine Apotheke einbrach. Das ist das Charakteristische der Sonntagsdiebe, sie wählen sich die belebtesten Gegenden zur Ausführung ihrer Verbrechen,


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