Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band. Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band - Hugo Friedländer


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nicht verrechnet. Es ist jedenfalls ein Beweis von großer Umsicht, daß Herrn Kriminalkommissar Klinghammer schon vor langer Zeit das Treiben des Knitelius derartig verdächtig erschien, daß er es für nötig erachtete, Knitelius eines Abends im »Café Westminster« in Berlin zu verhaften, um ihn dem Erkennungsdienst zuzuführen. Der Umsicht Klinghammers ist es zu danken, daß nach Bekanntwerden des Mordes in Berlin sofort festgestellt werden konnte: Knitelius und kein anderer ist der Täter.

      Der Staatsanwalt erläuterte alsdann in eingehender Weise die Schuldfrage vom juristischen Standpunkt und gelangte zu dem Antrag, daß ein Mord vorliegt. Der Angeklagte ist zweifellos in die Hirsch-Apotheke eingedrungen, so fuhr der Staatsanwalt fort, in der Absicht, sobald sich ein Mensch ihm entgegenstellen sollte, ihn niederzuschießen. Danach liegt Mord im Sinne des § 211 des Strafgesetzbuchs vor. Ich will hierbei bemerken: In Magdeburg ist die Ansicht verbreitet, wenn der Angeklagte nicht des Mordes für schuldig erachtet wird, dann kann er nicht bestraft werden, da er nur wegen Verdachts des Mordes ausgeliefert worden ist. Das ist ein Irrtum. Nach den Bestimmungen des Auslieferungsvertrags mit Brasilien kann auch der Angeklagte mit einer geringeren Strafe bestraft werden. Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Dank der großen Bemühungen der Untersuchungsbehörde und der technischen Fortschritte auf dem Gebiete der Photographie ist es gelungen, zwei Jahre nach der Tat den »Gymnasialoberlehrer« in Rio de Janeiro festzunehmen und der gerechten Strafe zuzuführen. Die große Kaltblütigkeit und Ruhe, die der Angeklagte bis zum letzten Augenblick an den Tag gelegt hat, spricht zweifellos dafür, daß er auch die Tat mit Ruhe und Kaltblütigkeit begangen hat. Sorgen Sie durch Ihren Urteilsspruch dafür, meine Herren Geschworenen, daß die furchtbare Tat eine entsprechende Sühne erfährt. Milde hat der Angeklagte jedenfalls nicht verdient. Bejahen Sie die Schuldfrage wegen Mordes.

      Vert. R.-A. Dr. Boré: Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt bei, es ist ein schweres Verbrechen, das Ihrer Beurteilung unterliegt und eine entsprechende Strafe rechtfertigt. Ich könnte mich nicht einen Anwalt des Rechts nennen, wenn ich das in Abrede stellen wollte. Allein ein Todesurteil läßt sich weder vom juristischen noch vom menschlichen Standpunkt aus rechtfertigen. Daß der Angeklagte mit dem Vorsatz in die Hirsch-Apotheke eingedrungen ist, um einen Menschen zu töten, ist in keiner Weise erwiesen. Solange aber dieser Beweis nicht geführt ist, dürfen Sie die Schuldfrage wegen Mordes nicht bejahen. Es ist auch nicht erwiesen, daß der Angeklagte ein professionierter Einbrecher gewesen ist. Er ist jedenfalls einer solchen Tat wegen niemals auch nur angeklagt gewesen. Mit Vermutungen kann man doch nicht operieren. Der Angeklagte wußte, was ihm unter Umständen bevorsteht, er hat deshalb hartnäckig geleugnet. Das spricht aber noch nicht dafür, daß er die Absicht hatte, einen Menschen niederzuschießen. Die Tat ist ihm zweifellos vom Augenblick eingegeben worden. Der Umstand, daß er stets eine Schußwaffe bei sich trug, ist auch nichts Auffälliges. Der Angeklagte hat in Berlin in Cafés verkehrt, in denen jeder dritte Mann eine geladene Schußwaffe bei sich trägt. Ich habe nach den mehrfachen Unterredungen, die ich mit dem Angeklagten hatte, die Überzeugung erlangt, daß er noch ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden kann. Er bereut aufrichtig seine Tat. Ich bitte Sie deshalb, nur die Frage wegen Totschlags zu bejahen.

      Der Angeklagte versicherte nochmals, daß er nicht die Absicht hatte, den Apothekenbesitzer zu erschießen, er habe im Augenblick keinen anderen Ausweg gewußt und ohne jede Überlegung gehandelt. Er bereue aufrichtig seine Tat. Er habe auf dem langen Wege von Brasilien nach Magdeburg sich vorgenommen, zu leugnen und möglichste Ruhe und Kaltblütigkeit zu bewahren, da er wußte, daß er zum Tode verurteilt werden könnte. Er sei kein Jurist. Wenn er gewußt hätte, daß er nur wegen Totschlags verurteilt werden könnte, dann hätte er sofort ein offenes Geständnis abgelegt.

      Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage wegen Totschlags und auch die Schuldfrage, ob der Angeklagte bei Begehung eines Verbrechens, um ein ihm entgegenstehendes Hindernis zu beseitigen bzw. sich der Ergreifung auf frischer Tat zu entziehen, vorsätzlich einen Menschen getötet hat.

      Staatsanwalt Schütte beantragte, mit Rücksicht auf die große Gemeingefährlichkeit des Verbrechens und auf die Frivolität, mit der der Angeklagte gehandelt habe, lebenslängliche Zuchthausstrafe und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.

      Der Verteidiger, R.-A. Dr. Boré, ersuchte, dem Angeklagten, der doch zweifellos in Eingebung des Augenblicks gehandelt habe, die Möglichkeit zu lassen, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden. Er (Vert.) bitte deshalb den Gerichtshof, auf eine zeitige Strafe zu erkennen, und zwar nicht über die Mindeststrafe von zehn Jahren hinauszugehen.

      Vors.: Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen?

      Angekl. (nach einigem Zögern): Ich will mit meinem Verteidiger sprechen.

      Der Angeklagte erklärte schließlich nach nochmaliger Frage des Vorsitzenden, daß er nichts weiter zu sagen habe.

      Nach kurzer Beratung des Gerichtshofs verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Goldschmidt: Nach dem Wahrspruch der Geschworenen ist der Angeklagte im Sinne der §§ 212 und 214 des Strafgesetzbuchs schuldig. Der Gerichtshof sieht in der Tat des Angeklagten eine große Gemeingefährlichkeit und Frivolität. Der Gerichtshof hat aber dennoch von einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe Abstand genommen, da vielleicht doch die Möglichkeit vorliegt, daß der Angeklagte in der Eingebung des Augenblicks gehandelt hat. Auch will der Gerichtshof dem Angeklagten nicht die Möglichkeit nehmen, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden. Der Gerichtshof hat deshalb den Angeklagten zu einer Zuchthausstrafe von vierzehn Jahren und zu zehn Jahren Ehrverlust verurteilt und dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Angeklagte ist abzuführen.

      Der Angeklagte nahm das Urteil wohl mit großer Niedergeschlagenheit, aber doch mit äußerer Ruhe entgegen.

      Böcklin-Muther.

      Die Kunst hat, ebenso wie ihre Schwester, die Wissenschaft, und ihre Zwillingsschwester, die Technik, in den letzten 50 Jahren ganz gewaltige Fortschritte gemacht. Schon im grauen Altertum und im ganzen Mittelalter ist die Kunst bei allen Kulturvölkern das verhätschelte Kind gewesen, zumal sie dem religiösen Kultus aller Konfessionen ganz unschätzbare Dienste leistete. Der Salomonische Prachttempel in Jerusalem, die Pyramiden und Obelisken in Ägypten, die prächtigen Denkmäler im alten Athen, die christlichen Kirchen des Mittelalters waren in der Hauptsache Erzeugnisse der Kunst. Deshalb wurde die Kunst zu allen Zeiten und bei allen Kulturvölkern gefördert, während die Wissenschaft vielfach Anfeindungen. zu erdulden hatte. Aber auch die Fortschritte der Kunst und Technik fanden nicht allgemeine Anerkennung. Noch jetzt ist man mittels der sog. Lex Heinze bemüht, der Kunst Schranken zu ziehen. In unserem vom Materialismus beherrschten Zeitalter ist auch der Kunst ein wesentliches Hemmnis in Gestalt der wirtschaftlichen Not entstanden. »Die Kunst geht nach Brot.« Dieser tatsächliche Zustand ist ein arger Krebsschaden unserer vielgerühmten Kultur. Nicht bloß der Mann der Wissenschaft, auch der Künstler ist vielfach genötigt, der augenblicklichen Zeitrichtung zu entsprechen. Der Künstler ist ebenso wie der Mann der Wissenschaft vielfach Lohnarbeiter der herrschenden Richtung geworden. Nicht gering ist die Zahl der Künstler, die am Hungertuch nagen. Am 4. Juli 1911 wurde der Sohn des berühmten Malers Giovanni Segantini, der Maler Leopoldo Segantini, aus dem Untersuchungsgefängnis auf die Anklagebank der dritten Strafkammer des Landgerichts Berlin II geführt. Der erst 26jährige junge Mann war bereits, wie Sachverständige bekundeten, ein Künstler, er glich aber nicht im entferntesten seinem weltberühmten Vater. Im Januar 1910 war er nach Berlin gekommen. Hier ist er schließlich derartig in Not geraten, daß er tagelang, im buchstäblichen Sinne des Wortes, Hunger litt und obdachlos war. Er mußte im Asyl für Obdachlose oder auf einer Bank des Berliner Tiergartens nächtigen. In dieser großen Not verkaufte er eigene Bilder und Zeichnungen unter der Versicherung, daß sie von seinem verstorbenen Vater herrühren, an Kunsthändler. Der junge Künstler veranschaulichte, als er vor seinen Richtern stand, ein Bild des Jammers und des Elends. Es war für jeden Menschenfreund tief betrübend, als der junge Mann mit tränenerstickter Stimme erzählte, wie er in der Hauptstadt des Deutschen Reiches fast verhungert wäre und froh war, daß er des Abends in den »gastlichen« Räumen des Asyls für Obdachlose Aufnahme fand


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