Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band. Hugo Friedländer
Wie lange waren Sie in Monte Carlo?
Angekl.: Acht Wochen.
Vors.: Haben Sie dort deutsche Zeitungen gelesen?
Angekl.: Jawohl.
Vors.: Haben Sie alsdann von dem Mord in Magdeburg gelesen?
Angekl.: Nein, ich habe davon erst gehört, als ich in Rio de Janeiro festgenommen wurde.
Vors.: Lesen Sie denn überhaupt Zeitungen?
Angekl.: Ich lese sehr viele Zeitungen.
Vors.: Und trotzdem haben Sie, solange Sie in Europa waren, niemals gelesen, daß in Magdeburg ein Apothekenbesitzer ermordet wurde, und daß Sie des Mordes dringend verdächtig sind?
Angekl.: Ich habe niemals etwas von dem Morde gehört.
Vors.: Den gegen Sie erlassenen Steckbrief, der in zahlreichen Zeitungen erlassen wurde, haben Sie nicht gelesen?
Angekl.: Nein.
Vors.: Von wem hatten Sie das Geld zur Überfahrt nach Brasilien?
Angekl.: Die Dame in Monte Carlo gab mir 10000 Mark.
Der Angeklagte bemerkte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe in Rio de Janeiro unter dem Namen Andreas Walter gelebt und deutschen Sprachunterricht erteilt.
Vors.: Weshalb hatten Sie einen falschen Namen angenommen?
Angekl.: Ich fürchtete, wegen der Brillantenschwindeleien in Weißensee verfolgt zu werden.
Der Angeklagte schilderte alsdann in ausführlicher Weise seine Verhaftung in Rio de Janeiro.
Vors.: Treten Sie einmal an den Richtertisch. Sie haben im Jahre 1905 eine behördliche Eingabe geschrieben und haben, als Sie hier vom Untersuchungsrichter vernommen wurden, das Protokoll unterschrieben. Es gewinnt den Anschein, als ob Sie hier Ihre Handschrift absichtlich verstellt hätten?
Angekl.: Ich schreibe jetzt nur etwas dicker als früher.
Vors.: Sie haben auch Ihr Äußeres gegen früher verändert?
Dem Angeklagten wurde eine Photographie vorgelegt und ihm alsdann vom Vorsitzenden befohlen, seinen weißen Strohhut, Reisemütze und schwarzen steifen Filzhut aufzusetzen.
Vors.: Es ist jedenfalls auffallend, daß Sie leugneten, Nitter zu kennen, daß Sie bestritten haben, Knitelius zu heißen, daß Sie Ihre Handschrift verstellten, und daß Sie sofort nach dem Morde spurlos aus Europa verschwanden. Ich bemerke Ihnen außerdem, daß Nitter Sie anfänglich nicht kennen wollte, später aber mit voller Bestimmtheit behauptet hat, daß Sie den Apothekenbesitzer Rathge erschossen haben.
Angekl.: Das kann Nitter unmöglich behaupten. Unter seinem Eide wird er bei seiner Behauptung nicht bleiben.
Vors.: Nitter hat absolut kein Interesse, einen Unschuldigen zu beschuldigen.
Medizinalrat Dr. Keferstein nahm hierauf an dem Angeklagten Messungen vor.
Es wurde alsdann Waffenhändler Schulz als Zeuge vernommen. Dieser war unmittelbar nach dem Morde an den Tatort gekommen. Er schilderte in ausführlicher Weise seine Wahrnehmungen. Der ermordete Rathge schrie: »Haltet ihn, er hat geschossen!« Rathge hatte auch noch soviel Kraft, um Nitter zu fassen. Rathge fiel sehr bald zu Boden und jammerte: »Ich werde wohl sterben.« Sehr bald verlor er das Bewußtsein. Rathge erzählte vorher: Als er ins Kontor trat, sei sofort geschossen worden. Nitter bestritt, etwas begangen zu haben; er sei zufällig in die offene Vorhalle eingetreten, da er etwas kaufen wollte. Dem Nitter sei sofort eine noch rauchende Pistole und ein Hammer abgenommen worden. Er (Zeuge) habe einen zweiten Mann fortlaufen sehen, er sah dem Angeklagten ähnlich, er könne aber nicht sagen, daß es der Angeklagte war.
Fräulein Rathge, Schwester des ermordeten Apothekenbesitzers, schilderte in eingehender Weise den Vorgang. Sie habe ihrem Bruder die erste Hilfe geleistet. Ihr Bruder habe ihr gesagt, er habe im Halbdunkel die Männer nicht erkennen können und sie für Bekannte gehalten. In demselben Augenblick, als er ins Kontor trat, sei geschossen worden.
Medizinalrat Dr. Keferstein begutachtete: Rathge sei infolge der in den Bauch erhaltenen Schußverletzung am 28. Oktober 1908 an Bauchfellentzündung gestorben.
Kriminalkommissar Eggert (Magdeburg) schloß sich im allgemeinen den Bekundungen des Fräulein Rathge an. Nitter habe sich zunächst Schröder genannt und angegeben, seinen Komplicen nicht zu kennen. Erst nach einigen Tagen habe er zugegeben, daß es Knitelius war.
Kriminal-Polizeiinspektor Schmidt: Ich hatte sofort die Überzeugung, daß es sich um reisende Verbrecher handelt. Die reisenden Verbrecher sind ungemein gefährlich. Sie kommen gewöhnlich zu zweien oder dreien des Morgens aus einer Großstadt, zumeist aus Berlin, baldowern etwas aus, »drehen alsdann das Ding« und verduften eiligst wieder. Diese fahrenden Verbrecher teilen sich in verschiedene Gruppen. Eine Gruppe macht nur Geldschrankeinbrüche, eine zweite Gruppe legt sich auf den Diebstahl von Wertsachen, eine dritte Gruppe begeht Taschendiebstähle, eine vierte Gruppe besteht aus Sonntagsdieben, das heißt sie verüben Sonntag nachmittags in Wohnungen und Kontoren Einbrüche, da sie annehmen, daß niemand in der Wohnung oder im Kontor sei. Gewöhnlich vergewissern sie sich zunächst durch Klingeln, ob Menschen in der Wohnung sind. Nitter habe zunächst angegeben, er heiße Franz Schröder aus Hannover. Bei Nitter sei auch »Tandelzeug«, d.h. Einbruchwerkzeuge gefunden worden. Er sagte: Die habe er von seinem entkommenen Komplicen, von dem er nur wisse, daß er Fritz heiße. Er habe ihn erst am Abend vorher kennengelernt. Nitter wurde sofort photographiert und das Bild nach Berlin geschickt. Von dort erhielten wir sogleich die telegraphische Nachricht, daß es Nitter sei, sein Komplice sei wahrscheinlich Otto Knitelius. Als die Photographie von Knitelius aus Berlin eintraf, wurde sie Nitter gezeigt. Dieser sagte sofort: Das ist Knitelius, der hat allerdings geschossen. Da uns die Berliner Kriminalpolizei mitteilte, daß das Verbrecherpaar auch eine Reise durch Schlesien unternommen hatte, wandte ich mich an die Breslauer Kriminalpolizei. Diese bestätigte die Benachrichtigung der Berliner Polizei. Eine Eigentümlichkeit der reisenden Verbrecher ist es, sich nicht gegenseitig zu verraten; sie geben erst dann ihre Komplicen an, wenn sie bestimmt glauben, daß letztere in Sicherheit sind. Eine weitere Eigentümlichkeit der reisenden Verbrecher ist, daß sie engste Verbindung mit der Prostitution haben. Eine bekannte Magdeburger Prostituierte ist mit den beiden Verbrechern vorher zusammen gewesen.
Maschinenmeister Hertwig: Er habe den Nitter mit festnehmen helfen. Bei diesem sei ein vollgeladener Revolver gefunden worden.
Kriminalkommissar Weiland (Berlin): Der Angeklagte sei ihm als Juwelenschieber bekannt. Ob er in Berlin etwas Strafbares begangen habe, könne er nicht sagen. Sein (des Zeugen) Spezialfeld sei die Verfolgung von Geldschrankeinbrechern. In Berlin werde bisweilen ein halbes Dutzend Geldschrankeinbrüche in einer Nacht begangen. Er habe gehört, daß der angeklagte ein sehr schwelgerisches Leben in Berlin geführt habe. Die internationalen reisenden Einbrecher treten immer sehr nobel in eleganter Toilette auf. Die reisenden Verbrecher und auch die Juwelenschieber verkehren in Berlin zumeist im Café Opera, Unter den Linden.
Vert.: Ist es nicht eigentümlich, daß zwei internationale reisende Verbrecher gerade nach Magdeburg kommen, um in eine Apotheke einzubrechen?
Zeuge: Es ist möglich, daß ihnen gesagt wurde, es sei in der Apotheke Geld zu holen.
Am zweiten Verhandlungstage wurde als erster Zeuge Kriminalkommissar Klinghammer vernommen. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin in Berlin Patrouillenkommissar. Es gehört zu meinen Obliegenheiten, in den Lokalen, die den Sammelpunkt von Verbrechern bilden, zu recherchieren und Kapitalsachen zu bearbeiten. Ich habe Knitelius und Nitter mehrfach beobachtet. Eines Tages erhielt ich eine anonyme Postkarte, in der mir mitgeteilt wurde: Wenn ich Otto Knitelius kennenlernen wolle, dann solle ich nach der am Belle-Alliance-Platz belegenen Konditorei Baumgarten kommen. Dort traf ich einen rothaarigen jungen Mann, der sich mir als Nitter vorstellte. Dieser sagte mir: Er