Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer
war. Dann kam sie ins Maximilianstift. Dieses soll alten unversorgten Damen Versorgung gewähren, beitragen, deren Lebensabend zu verschönern. Als Zweck heißt es in den Statuten: es solle den Damen ein friedliches Dasein gewähren, und die Damen sollen die Pflicht haben, in friedlicher Nachsicht und christlicher Geduld dahinzuleben. Die Angeklagte hat alle anderen als die dafür geeigneten Eigenschaften zur Leitung des Stiftes mitgebracht. Mit demselben Augenblick zog dort Verdruß ein. Sie wird von allen Seiten als boshaft, herrschsüchtig, gefühls- und gemütsroh, jähzornig, leidenschaftlich geschildert. Diese Person mit solchen Eigenschaften steht an der Spitze eines Versorgungsheims! Wie diese Versorgung war, haben wir ja gehört. Statt Frieden fanden die alten Damen eine Hölle. Sie werden schon alle die Erfahrung gemacht haben, daß solche Personen dazu neigen, nach außen den Anschein eines gottesfürchtigen, opferwilligen Lebens zu erwecken, um diejenigen, die mit ihnen nur oberflächlich in Berührung kommen, über ihren wahren Charakter zu täuschen. Die Angeklagte ging fleißig in die Kirche und hielt die Dienstboten dazu an. Aber innerhalb der vier Mauern des Stifts! Wo war da die christliche Nächstenliebe, die liebevolle Nachsicht, die christliche Geduld? Wie hat sie die Schwächen der alten Damen behandelt? Meisterhaft war sie in der Kunst des Ehrabschneidens. Allen Stiftsdamen sagte sie etwas nach. Die Protektorin des Stiftes ist eine königliche Hoheit – ich nenne den Namen nicht, er ist ja schon wiederholt erwähnt worden. Diese hohe Protektorin hat von der Angeklagten viel gehalten, auch noch, nachdem sie unter dem dringenden Verdacht, einen Giftmordversuch begangen zu haben, verhaftet war, hat sie ihr zum Zeichen des Vertrauens einen Brief und Eßwaren ins Gefängnis geschickt. Und dieser hohen Dame sagte die Angeklagte nach: »Die kümmert sich ja nicht um das Stift, die hat ja dazu keine Zeit, denn sie hält es mit ihrem Hausarzt.« Ich enthalte mich jeden Urteils. Mich ekelt der Charakter der Angeklagten an. Nach allem, was wir über die Angeklagte gehört haben, können wir sagen: Wenn je ein Indizienbeweis schlüssig gewesen ist, so ist es dieser. Es reiht sich Kette an Kette, es besteht keine Lücke. »Beten Sie nur für mich recht fleißig, damit's schön ausgeht, und wir wallfahrten nach Altötting,« sagte die Angeklagte zur Butzmann. Sie hatte das Beten auch sehr nötig. Aber wir haben hier nicht zu fragen, wie die Angeklagte vor Gott ihr Gewissen entlastet. Hier haben wir abzuurteilen über den frevelhaften Eingriff in das Leben eines armen Dienstmädchens, das der Angeklagten treu gedient hatte. Es ist ein ganz verfehlter Versuch, die Angeklagte als »saudumme« Person hinzustellen. In ihrer Verteidigung hat sie sich als ganz raffinierte Person erwiesen. Ihre Taktik war, alles abzuleugnen. Wenn sie schließlich die rohen Äußerungen zugab, so hat sie das nicht aus eigenem Antrieb getan, sie ist erst dazu gekommen nach vorhergegangener Belehrung von einer bestimmten Seite (Bewegung). Der Staatsanwalt schloß, indem er die Erwartung aussprach, daß die Geschworenen die Angeklagte der schweren Körperverletzung, begangen durch Vergiftung, schuldig sprechen werden.
Verteidiger Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz: Meine Herren Geschworenen! Die Anklage baut sich auf Indizien auf und benutzt die Psychologie in einer Weise zur Stütze, wie ich es noch nicht erlebt habe. Die Anklage führt als wichtigstes Indizium in erster Reihe an, daß die Angeklagte den Abort abschloß, bevor sie zur Kirche ging. Ich halte das gerade für ein entlastendes Moment. Die Salzsäure war wochenlang schon im Abort aufbewahrt. Wenn die Angeklagte nach der Tat schnell noch vor dem Weggang den Abort zuschloß, so lenkte sie ja den Verdacht auf sich. Also aus diesem Umstand des Abschließens kann bei einem normalen Menschen nichts Verdächtiges gefolgert werden. Ein weiteres Indizium ist das Motiv. Gewöhnlich ist man bei uns froh, wenn man ein Motiv hat. Die Anklage hat gleich drei, und der Staatsanwalt präsentiert sie uns zur Auswahl. Da kann man auf die Vermutung kommen, daß sie alle drei nichts taugen. Ich halte es für absurd, daß ein normaler Mensch, bloß um die Oberin des Krankenhauses, die die Wagner empfohlen hatte, nicht zu verletzen, ein Dienstmädchen vergiftet. Das zweite Motiv soll darin liegen, daß sie Verdruß bei den Damen gefürchtet habe, wenn sie die Wagner durch Kündigung aus dem Hause schaffte. Damit kommt die Anklage mit sich selbst in Widerspruch. Denn wie ein roter Faden zieht sich durch die Anklage, daß die Angeklagte herrschsüchtig, rücksichtslos sei. Und da soll sie sich mit einem Male vor den alten Damen gefürchtet haben. Ich bin auch der Meinung, daß die Angeklagte böse, herrschsüchtig ist. Darum aber auch trifft dieses Motiv nicht zu. Als drittes Motiv wird angenommen, die Angeklagte habe sich gefürchtet, daß die Wagner ins Ministerium gehen und angeben werde, was die Angeklagte über die Liebschaften der Stiftsdamen usw. ihr erzählt habe. Ich gebe zu, daß dies Indizium ausreichend wäre, wenn die Anklage auf Mord lautete. Um zu verhindern, daß jemand etwas anzeige, muß man ihn aus der Welt schaffen. Dazu reichte aber die Dosis Gift nicht aus, und das nimmt ja auch die Anklage nicht an. Darum ist auch das dritte Motiv unlogisch. Die Indizien können weder im einzelnen noch zusammen die Anklage stützen. Sie machen knapp die Möglichkeit aus, daß die Angeklagte die Tat begangen haben könne. Diese Möglichkeit liegt aber auch für alle anderen Hausbewohner vor. Da diese Indizien gar nichts ausmachen, hat man die Psychologie angezogen, wie noch in keinem Falle. Weil der Stoff für einen Rock nicht ausreichte, hat man ein Paar Hosen daraus angefertigt. In den Lehrbüchern der Kriminalpsychologie nennt man das ein Verrennen auf einen Seitenweg. Nach der Schilderung des Staatsanwalts ist die Angeklagte ein Satan in Menschengestalt, wie er nicht scheußlicher gedacht werden kann. Ich glaube, daß sie ein Mensch war mit großen, sehr großen Schwächen, aber auch großen Tugenden. Der ganze Entlastungsbeweis ist spurlos an dem Ohr des Herrn Staatsanwalts verhallt. Ich finde es unbegreiflich vom Herrn Staatsanwalt, daß er gegen diese so gut beleumundeten Eheleute Karl die schweren Vorwürfe erhoben und abwesende Zeugen, die sich nicht verteidigen können, beleidigt hat. Hier steht Eid gegen Eid. Wer hat denn ein größeres Interesse an dem Prozeß? Die Karls oder die Wagner? Aus dem ganzen Gang der Untersuchung habe ich den Eindruck gewonnen, daß es mit der Wahrheitsliebe der Wagner nicht so einwandfrei bestellt ist, wie sie der Staatsanwalt hingestellt hat. Die Aussagen der Karls werden durch andere Aussagen unterstützt. Aber der Herr Staatsanwalt mißt mit zweierlei Maß. In dem Leben der Wagner zeigen sich so viele merkwürdige Vorkommnisse wie da ist, die Erzählung über das verschwundene Dienstbuch mit den angeblich guten Dienstzeugnissen, die Geschichte mit dem Hund, der ihr einmal erschienen, ist usw. Sie hat Geistererscheinungen, immer Erzählungen mit mystisch-religiösem Beigeschmack erwähnt, bloß um Aufsehen zu erregen und sich interessant zu machen. Nehmen wir an, das Mädchen habe die Salzsäure getrunken, um sich interessant zu machen. Ist das etwas anderes, als alle die anderen Geschichten? Sie kannte die Wirkung der Salzsäure. Das Quantum kann ein gesunder Mann ohne Nachteile mit zwei Schluck einnehmen. Sie hatte nur nicht mit ihrem schwachen Magen gerechnet. Wenn Sie die Angeklagte schuldig sprechen, trifft sie eine furchtbare Strafe, dieser Paragraph kennt keine mildernden Umstände. Mit einem Schuldspruch vernichten Sie die Existenz dieser Frau, die in Ehren grau geworden und im Leben schwer gearbeitet hat. Ich halte eine Verurteilung bei dem mangelhaften Beweismaterial für unmöglich. Wenn Sie aber der Meinung sein sollten, daß die Angeklagte es getan hat, so kommt es auf das »um« an. Sie mögen ja annehmen, daß die Angeklagte der Wagner einen Possen habe spielen wollen; wenn Sie aber verneinen, daß es in der Absicht geschehen, sie an der Gesundheit zu schädigen, so erfolgt zwar Freisprechung, die Wagner hat aber einen zivilrechtlichen Anspruch an die Angeklagte. Sie verliert damit ihr kleines Vermögen und Heim, das würde doch schon eine sehr große Sühne sein – wenn sie es wirklich getan haben sollte. (Die Angeklagte rief: Doch nicht, ich bin unschuldig, bei Gott im Himmel!)
Die Geschworenen traten nach Mitternacht in Beratung. Nach einer halben Stunde traten die Geschworenen wieder in den Saal. Der Obmann verkündete: Die Geschworenen haben die Schuldfrage bejaht.
Staatsanwalt Aull beantragte eine Zuchthausstrafe von 7 Jahren und 10 Jahre Ehrverlust.
Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz bat um eine mildere Strafe.
Angekl. v. Heusler: I' bitt' Sie, i' bin unschuldig.
Der Gerichtshof verurteilte die Angeklagte zu 6 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust. Händeringend beteuerte die Angeklagte nochmals, unschuldig zu sein. Mehrere alte Damen drückten ihr zum Abschied die Hand, als sie, stolz aufgerichtet, sich abführen ließ. Die Sitzung schloß um 1/22 Uhr nachts. Vor dem Justizpalast hatten sich große Menschenmassen angesammelt, die begierig auf das Urteil warteten, das vielfach große Befriedigung erregte.
Als die Angeklagte im verschlossenen Gefangenenwagen nach dem vom Justizpalast entfernt gelegenen Untersuchungsgefängnis transportiert