Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer
mir meine Nichte entgegen und rief mir zu: Onkel, ich bin schon katholisch geworden. Ich antwortete ganz bestürzt: »Mädel, dann schieße ich dich tot.«
Vors.: Ihre Nichte hat verschiedenen Leuten erzählt, Sie hätten vor der Bonifaziuskirche auf sie geschossen und wären deshalb zu 200 Mark Geldstrafe verurteilt worden.
Zeuge: Das habe ich auch in der Zeitung gelesen. Ich weiß natürlich nichts davon, denn auf eine solche Schießerei stehen doch ganz andere Strafen wie 200 Mark Geldstrafe. Über die Heusler hat mir meine Nichte mehrfach geklagt. Als ich sie im Krankenhaus besuchte, äußerte sie den bestimmten Verdacht, daß die Heusler ihr Salzsäure in den Kaffee getan habe. Über die Behandlung im Krankenhause führte meine Nichte ebenfalls lebhafte Klage. Sie sei wie eine Selbstmörderin behandelt worden; der Medizinalrat habe ihr gesagt, wie sie nur annehmen könne, daß eine Oberin so etwas tun werde. Dagegen war sie über die Behandlung bei Dr. Decker voll des Lobes. Vor der Operation ging ich zu Dr. Decker und fragte, ob er Gewähr dafür bieten könne, daß die Operation gelingen werde. Dr. Decker wies mich barsch ab. Ich habe deshalb meiner Nichte geraten, sich nicht operieren zu lassen. Bei der Rückkehr von Berchtesgaden war meine Nichte bis ins Herz hinein verdorben. Sie trank von da ab und äußerte sich despektierlich auch über mich. Sie sprach von Heiratsabsichten auf einen gewissen Loisl, in den sie verliebt war. Sie klagte in der letzten Zeit über brennendes Durstgefühl, sie habe Hunger wie ein Wolf, und wenn sie gegessen habe, müsse sie sich sofort erbrechen.
Dr. Decker: Fetzer ist mir in höchst arroganter Weise gegenübergetreten. Sein Auftreten war höchst ungezogen, er roch auch nach Schnaps, das veranlaßte mich, ihm die Tür zu weisen.
Fetzer: Ich habe noch nie Schnaps getrunken, wenn ich auch früher bei der Gendarmerie war.
Frau Fetzer, Ehefrau des Vorzeugen: Meine Nichte kam schon vor dem Vorfall zu mir und klagte weinend, die Heusler sei so böse zu ihr, sie könne es bei ihr nicht aushalten.
Staatsanwalt: War das lange vor dem Vorfall?
Zeugin: Mindestens drei Monate früher. Als ich daran nach dem Krankenhaus kam, sagte die Wagner: »Tante, glaubst mir nun, daß die Heusler so bös ist? Hätte ich den Kaffee ganz ausgetrunken, so wäre ich gestorben. Es würde dann heißen: Die hat sich gewiß wegen einer Liebschaft das Leben genommen. Aber wer weiß, ob man mir glaubt, ich bin ja nur ein Dienstbote.« Die Minna war immer ein braves und ordentliches Mädchen und schickte ihrer Mutter Geld, wenn sie etwas gespart hatte.
Dienstmädchen Sgoff: Sie wisse bestimmt, daß sie selbst den Kaffee in das leere Fläschchen hineingeschüttet habe. Die Schwarz sei heraufgekommen und habe im Namen der Oberin den Kaffee gefordert, die Wagner habe ihn aber nicht hergegeben.
Vors.: Wie lange waren Sie noch oben?
Zeugin: Etwa eine Viertelstunde.
Vors.: Ist in dieser Zeit die Angeklagte hinaufgekommen?
Zeugin: Nein, in der Zeit nicht, das muß später gewesen sein.
Als letzter Zeuge wurde Buchhalter Hofmeister, der beim Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz in Stellung war, vernommen. Er bekundete, daß die Angeklagte, nachdem sie aus dem Zuchthause entlassen sei, bei ihm wohne. Sie benehme sich durchaus ruhig, sei wahrheitsliebend und zuverlässig.
Angeklagte v. Heusler (weinend): Durch die große Güte des Herrn ...
Vert. R.-A. Dr. v. Pannwitz: Bitte, lassen Sie das, das gehört nicht hierher.
Es wurde darauf zur Vernehmung der Sachverständigen geschritten. Landgerichtsarzt Medizinalrat Professor Dr. Hoffmann (München): Aus dem Umstande, daß die hintere Magenwand bei der Wagner keine Verätzung gezeigt habe, könne nicht der Schluß gezogen werden, daß sie keine Salzsäure geschluckt habe. Es sei auch Blut in dem Erbrochenen gewesen, das sei ein Charakteristikum der Salzsäurevergiftung. Im ganzen habe die Wagner 2 Gramm Salzsäure eingenommen, die in 20 Gramm Milchkaffee enthalten waren. Bei einem gesunden Menschen könnte das höchstens Leibschmerzen verursachen. Die Wagner habe die Wirkung aber schärfer verspürt, weil sie schon vorher magenkrank war.
Dr. med. Decker (München): 2 Gramm Salzsäure sind verschwindend gegenüber den Speisemengen im Magen. Die Obduktion hat hierfür gar keinen Anhalt gegeben.
Prof. Dr. Hoffmann bezeichnete es als möglich, daß bei der Operation Entzündungsstoffe in die Bauchhöhle gelangt seien.
Sodann folgte das Gutachten des Sachverständigen Professors. Dr. Kraepelin, Direktors der psychiatrischen Universitätsklinik in München. Dieser betonte ganz besonders den Mangel an Wahrheitsliebe der Wagner. In Verbindung mit ihrer Unwahrhaftigkeit wird man auch eine Neigung zur Übertreibung ihrer Krankheitserscheinungen annehmen müssen. Die Wagner war nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes geisteskrank, sondern sie gehörte dem großen Zwischengebiet zwischen geistiger Gesundheit und geistiger Krankheit an, das unter den Begriff »Minderwertigkeit« fällt. Man kann bei Beantwortung der Frage, ob die Wagner fähig war, auch subjektiv Unwahres auszusagen, also einen wissentlichen Meineid zu leisten, zu einer Bejahung kommen, wenn man ihre psychopathische Minderwertigkeit in Betracht zieht, die ihr ein Zurück von dem einmal betretenen Wege wohl unmöglich machte.
Professor Dr. Aschaffenburg (Köln) trat dem Gutachten des Professors Dr. Kraepelin vollständig bei.
Professor Dr. Freiherr v. Schrenck-Notzing (München): Er könne die Frage, ob Hysterische die Neigung haben, aus Rachsucht sich selbst Schaden zuzufügen, um andere zu belasten, ebenfalls bejahen. Er könne eine ganze Reihe derartiger. Fälle aus seiner Praxis anführen.
In ähnlicher Weise äußerte sich Professor Dr. Gudden (München).
Professor Dr. Hoffmann suchte hierauf das Gutachten zu rechtfertigen, das die Ärzte in der ersten Verhandlung erstattet haben, auf Grund dessen die Wagner damals durchaus glaubwürdig befunden wurde. Ich und Dr. Holterbach haben die Wagner während der vorigen Schwurgerichtsverhandlung beobachtet und nach jeder Sitzung ihren Geisteszustand untersucht. Ich sagte, ich hätte nicht eine Spur von Geistesstörung gefunden. Auf Grund der Zeugenvernehmung, der Nachforschungen nach ihrem Vorleben, der Gutachten und des Fehlens erblicher Belastung habe ich das Vorliegen von Hysterie verneint. Ich schloß damals: Meiner Ansicht nach liege kein Grund vor, an der geistigen Integrität der Wagner zu zweifeln. Ich bemerke, daß ich heute mein früheres Gutachten nicht im vollen Umfange aufrechterhalten kann. Denn in dieser Verhandlung sind neue Tatsachen hervorgetreten, die mich nötigen, mein Gutachten an einzelnem Punkten zu ändern. Der Sachverständige ging alsdann auf die einzelnen Momente der Hysterie ein. Bezüglich des Erbrechens bestritt er, daß es simuliert oder hysterischen Ursprungs gewesen sei.
Es entspann sich eine längere Auseinandersetzung zwischen den Sachverständigen, in der die anderen Sachverständigen, entgegen dem Gutachten Dr. Hoffmanns, entschieden daran festhielten, daß die Wagner stark hysterisch gewesen sei.
Nach Verlesung derselben Schuldfrage wie in voriger Verhandlung wurde noch die Unterfrage zugefügt, ob ein Versuch vorliegt.
Es begannen darauf die Plädoyers. Staatsanwalt Dr. Held I gelangte zu dem Ergebnis, daß die Anklage nicht aufrechterhalten werden könne. Zwar habe sich ein Urteil als richtig erwiesen: die Angeklagte war jähzornig, rücksichtslos und gefühllos. Es lag also im Charakter der Angeklagten, ihr die Tat zuzutrauen. Indessen einige der gravierendsten Punkte des Indizienbeweises seien erschüttert. Namentlich sei erwiesen, daß die Wagner schwer hysterisch war. Wenn er (Staatsanwalt) nach alledem die Anklage auch nicht mehr aufrechterhalten könne, so sei er andererseits doch nicht gerade von der Unschuld der Angeklagten überzeugt. Er stelle die Entscheidung den Geschworenen anheim.
Verteidiger Rechtsanwalt Dr. v. Pannwitz trat mit großer Entschiedenheit für die Freisprechung ein. Ganz besonders griff der Verteidiger die Gutachten an, die von den medizinischen Sachverständigen in der ersten Verhandlung erstattet worden seien. Diese haben in der Hauptsache die ungerechte Verurteilung der Angeklagten verursacht.
Die Angeklagte beteuerte nochmals unter Tränen, daß sie vollständig unschuldig sei.
Nach nur kurzer Beratung verneinten die Geschworenen die Schuldfragen. Der Vorsitzende