Pitaval des Kaiserreichs, 5. Band. Hugo Friedländer
Befragen des Vorsitzenden: Er sei seit vielen Jahren und noch heute Stadtverordneter in Beuthen, Oberschlesien. Er habe lange Zeit eine geradezu mustergültige Ehe geführt. Plötzlich habe er wahrgenommen, daß seine Frau intimen Verkehr mit seinem Buchhalter unterhalte. Dadurch und auch infolge von Zerwürfnissen mit seinem Bruder Paul und geschäftlicher Aufregungen sei er sehr nervös geworden. Auf Veranlassung seines Bruders Paul und seiner Frau wurde ein Familienrat berufen. Ein Justizrat erklärte im Familienrat, er (Zeuge) sei geisteskrank und müsse in ein Irrenhaus. Am folgenden Tage sei der Kreisarzt Medizinalrat Dr. la Roche zu ihm gekommen mit dem Bemerken: Herr Lubecki, Sie arbeiten Tag und Nacht, für Ihre Gesundheit tun Sie aber gar nichts. Ich rate Ihnen, gehen Sie auf einige Wochen nach Leubus. Er erwiderte: Sie muten mir doch nicht etwa zu, ins Irrenhaus zu gehen? Sie sollen nicht ins Irrenhaus, sondern in das Leubuser Pensionat gehen, das ist ein sehr gutes Sanatorium, in dem Sie volle Bewegungsfreiheit haben, erwiderte der Kreisarzt. Nach langem Zureden habe er sich schließlich entschlossen, dem Rate Folge zu leisten, er habe aber sofort gesehen, daß er sich in einer Irrenanstalt befinde. Seine Einwendungen, daß er doch nicht geisteskrank sei und nicht ins Irrenhaus gehöre, wurden mit Hohnlachen beantwortet. Der Zeuge schilderte alsdann eingehend die lieblose Behandlung, er sei geschlagen, ins Wasser gesteckt worden usw. Depeschen, die er an den Landeshauptmann und den Minister des Innern gerichtet hatte, seien nicht abgeschickt worden. Ein Pfleger habe ihm gesagt, die Ärzte verständen keinen Spaß, es werde jeder Widerstand gebrochen. Der Oberarzt Dr. v. Kunowski verordnete ihm Beruhigungspillen. Dadurch geriet er in noch viel größere Erregung. Er lehnte es daher ab, die Pillen weiter zu nehmen. Der Oberarzt bedeutete, wenn er die Pillen nicht nehmen wolle, dann lasse er ihn zwölf Stunden ins Wasserbad stecken. »Wir werden Sie schon kirre kriegen.« Ein Pfleger, der die Pillen nahm, wurde krank. Einmal wurde er zwangsweise dreizehn Stunden lang ins Wasserbad gesteckt. Eines Tages, so fuhr Lubecki fort, lag ich auf einem Rohrstuhl vor dem Anstaltsgebäude. Da kam der Mann, den ich zur Wahrnehmung meines Geschäfts während meiner Abwesenheit eingesetzt hatte, und sagte mir: Er sei hinausgeworfen worden und Herr Dietrichs, der mit meiner Frau Ehebruch treibe, dominiere wieder. Ich wurde darüber sehr erregt. Als ich wiederum meine Freilassung verlangte, hieß es: »Ins Wasser!« Ich bin lange Zeit immer nur vom Bett ins Wasser und vom Wasser ins Bett gekommen. Eines Tages sagte mir Dr. Alter junior: »Ich werde Ihnen einen väterlichen Rat geben, lassen Sie sich entmündigen.« Als ich mich entschieden weigerte, sagte er: »Sie werden schon zahm werden, hier wird alles folgsam und zahm.« Ich wurde darüber ungemein aufgeregt. Einige Tage später sah ich den Geheimrat Alter, der bis dahin verreist war, zum ersten Male. Ich wollte mit ihm sprechen, er winkte aber ab. Dann kam ein Brief meines Bruders Paul, dessen Inhalt mich wiederum sehr erregte. Ich unternahm schließlich einen Fluchtversuch, der aber mißlang.
Am 2. Oktober 1905 kam der Landeshauptmann der Provinz Schlesien, v. Richthofen, zur Inspektion in die Anstalt. Ich hatte mir vorgenommen, recht zurückhaltend zu sein, denn ein Wärter hatte mir einmal gesagt: »Machen Sie mit den Ärzten keine Geschichten, sonst kann es Ihnen hier bitter gehen!« Die Bedeutung dieser Worte war mir ganz klar, denn ich dachte an das Wasserbad! Einen Tag vor der Ankunft des Landeshauptmanns war ich aus dem Gemeinschaftszimmer in ein anderes Zimmer gebracht worden. Ich verlangte, den Landeshauptmann zu sprechen. Dr. Alter junior aber sagte: Ja, Sie wollen! Sie haben nichts zu wollen, hier haben nur wir zu wollen! Ich wurde dann ohne Kleidung in einen verschlossenen Raum gesteckt, bis der Landeshauptmann die Anstalt wieder verlassen hatte. Am 9. kam meine Frau mit Herrn Dieterichs zu mir und bot mir zu meiner Verwunderung an, daß ich mich entmündigen lassen solle, damit die Fabrik verkauft werden könnte. Dies hat mich natürlich sehr mißtrauisch gemacht.
Eines Tages kam Geheimrat Dr. Alter zu mir und zog mich in ein Gespräch über Politik. Ich habe den Eindruck gehabt, daß der Geheimrat aus mir eine Majestätsbeleidigung herauswinden wollte, um mich dann mit Recht einsperren zu können. Am 9. Oktober schrieb ich einen Brief an die Staatsanwaltschaft, in dem ich um Befreiung bat. Als ich diesen Brief einem Wärter zeigte, sagte dieser: »Wenn Sie Geschichten machen, Sie wissen doch – die Bäder, die werden Sie schon beruhigen und zur Räson bringen!« Zwei Tage später schrieb ich einen zärtlichen Brief an meine Frau. Ich bemerkte in dem Briefe, daß ich mich nicht mehr in dem eifersüchtigen Wahn befinde und wegen der verschiedenen Dinge, die ich in meiner Krankheit, die nun geheilt sei, begangen habe, um Entschuldigung bitte.
Auf eine Frage des Vorsitzenden, ob dies auch seine wirkliche Anschauung war, erklärte der Zeuge, daß er selbstverständlich nur so getan habe, da er auf Lebenszeit in der Irrenanstalt eingesperrt worden wäre, wenn er seine wahren Gedanken geäußert hätte. Als er sich an den Landtagsabgeordneten Geh. Justizrat und Verwalter der gräflich Schaffgotschschen Güter, Dr. Stephan, brieflich um Hilfe gewendet hatte, sei ihm dies von Dr. Alter junior als »Rückfall« angerechnet worden. Er sei daraufhin dreizehn Stunden in die Badewanne gesteckt worden. Ein Wärter habe ihm hierbei erzählt, daß ein anderer Kranker sogar drei Tage und drei Nächte im Wasser gelegen habe. Bei der Aufnahme habe seine Frau angegeben, er sei starker Alkoholiker, während sie genau wußte, daß er beinahe Abstinenzler sei und höchstens bei Festlichkeiten ein Glas Wein trinke.
Geh. Medizinalrat Dr. Leppmann: Wie ist jetzt das Verhältnis des Zeugen zu seiner Familie?
Zeuge: Ich habe sofort nach meiner Entlassung die Pflegschaft aufheben lassen und meine Geschäfte weitergeführt. Mein Bruder Paul hatte mir sofort den Kredit entzogen; die Wechsel wurden protestiert, und damit war mir der Kredit dermaßen abgeschnitten, daß man mir selbst Kundenwechsel nicht mehr diskontierte. Die Lebensader wurde mir vollständig unterbunden; ich habe deshalb meine Fabrik notgedrungen aufgeben müssen. Mein Bruder Paul hatte alles pfänden lassen, Pferde, Maschinen usw. Er hat sogar den Gerichtsvollzieher beauftragt gehabt, daß die Pferde die Pfändungsscheine am Halse tragen sollten.
Der Vorsitzende stellte fest, daß in der Ehescheidungsklage am 6. November 1907 in erster Instanz die Ehe auf Klage und Widerklage geschieden worden und beide Teile als schuldig erklärt worden seien. Die Ehescheidungsklage schwebe in der Berufungsinstanz.
Auf weiteres Befragen des Geh. Medizinalrats Dr. Leppmann bemerkte Lubecki: Er habe die Überzeugung, daß die Ärzte in Leubus bestochen waren.
Hierauf wurde Frau Lubecki, eine kleine, nicht unschöne, dunkelblonde Frau von 38 Jahren, als Zeugin vernommen. Sie bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie halte ihren Mann noch für geisteskrank, denn sie könne jederzeit schwören, daß sie nicht Ehebruch begangen habe. Sie sei der Überzeugung, der Mann leide noch heute an Eifersuchtswahn, deshalb habe sie es veranlaßt, daß ihr Mann in eine Irrenanstalt gehe.
Auf Befragen des Verteidigers R.-A. Dr. Halpert gab schließlich die Zeugin zu, daß, während ihr Mann in Leubus war, sie sich mit dem Buchhalter Dieterichs geküßt habe. Dieterichs habe sie auch um die Taille gefaßt, sonst sei aber nichts zwischen ihnen vorgekommen.
Sodann wurde Kreisarzt Medizinalrat Dr. la Roche, Beuthen, Oberschlesien, als Zeuge vernommen: Auf Grund der ihm gewordenen Mitteilungen und eigenen Beobachtungen habe er es für dringend erforderlich erachtet, Lubecki in eine geschlossene Irrenanstalt zu bringen. Die Irrenanstalt Leubus liege so schön an der Oder und sei eine so ausgezeichnete Pflegeanstalt, daß sie jedem Geisteskranken nur empfohlen werden könne. Er habe nicht gesagt, Leubus sei ein Privatpensionat, sondern nur: Es herrsche in Leubus volle Bewegungsfreiheit, d.h. man könne jederzeit entlassen werden.
Beisitzer Landgerichtsrat Kämpfe: Der Mann konnte doch nicht jederzeit die Anstalt verlassen.
Zeuge: Aber er konnte jederzeit entlassen werden.
Beisitzer: Das ist doch aber etwas ganz anderes.
Vors.: Haben Sie den Mann körperlich untersucht?
Zeuge: Nein, er war ja körperlich gesund.
Vors.: Sie haben den Mann für geistesgestört erklärt hauptsächlich auf Grund von Mitteilungen seiner Frau.
Zeuge: Allerdings.
Vors.: Haben Sie diese Mitteilungen auf ihre Wahrheit geprüft?
Zeuge: Ich nahm an, daß sie wahr sind.