Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns

Zwangsvollstreckungsrecht, eBook - Alexander Bruns


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      Das bisher Gesagte lässt sich durch ein einfaches Beispiel verdeutlichen:

      G hat dem S nach seiner Behauptung ein Darlehen von € 2500 gegeben. Ist es zur Rückzahlung fällig, so darf G den S mahnen (§§ 286 Abs. 1, 281 Abs. 1 S. 1 BGB). Er darf ihm auch androhen, dass er im Falle nicht prompter Erfüllung künftig keinen Kredit mehr gewähren werde, dass er ihm keine Waren liefern werde usw. Alle diese Mittel zur Rechtsverwirklichung liegen im Rahmen der Rechts- und Sittenordnung. Er darf aber die € 2500 dem S nicht gewaltsam, d.h. gegen dessen Willen, wegnehmen, auch wenn dies leicht möglich wäre. Er muss vielmehr die Hilfe des Gerichts in Anspruch nehmen, also Leistungsklage bei dem zuständigen Amtsgericht erheben. Das Urteil des Amtsgerichts ist dann die Grundlage der Zwangsvollstreckung durch den Gerichtsvollzieher, u.U. auch wenn beim Landgericht noch eine Berufung anhängig ist. G kann auch – statt sofort Klage zu erheben – beim Amtsgericht den Erlass eines Mahnbescheids beantragen (§§ 688 ff.); legt S dagegen nicht Widerspruch ein, so ergeht ein Vollstreckungsbescheid, der dann die Grundlage für die Zwangsvollstreckung abgibt. Möglicherweise hat sich S schon beim Empfang des Darlehens in einer notariellen Urkunde der Zwangsvollstreckung unterworfen; dann ist diese Urkunde Vollstreckungstitel.

      1.9

      Von Einzelvollstreckung spricht man, wenn ein einzelner Gläubiger auf Vermögensstücke des Schuldners zugreift, um einen einzelnen Anspruch zu befriedigen. Er mag dabei mit anderen Gläubigern konkurrieren. Für das Verhältnis der Gläubiger untereinander gilt aber der Grundsatz der Priorität (Rn. 6.38): „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Es gibt ferner materiellrechtliche Rechtspositionen, die gegenüber anderen vollstreckenden Gläubigern Priorität verschaffen (Grundpfandrechte, Pfandrecht, Sicherheiten etc.). Über die Prioritätsregel hinaus kennt aber das Einzelvollstreckungsrecht keine Ausgleichsordnung zwischen den konkurrierenden Gläubigern. Wenn das Vermögen des Schuldners nicht für alle Gläubiger ausreicht, muss ein Insolvenzverfahren[3] eingeleitet werden, um die gleichmäßige und abgestimmte Befriedigung aller Gläubiger zu erreichen. Soweit das Insolvenzverfahren zur zwangsweisen Liquidation führt, spricht man auch von Gesamtvollstreckung. Im Falle der Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit stellt das deutsche Recht Einzel- und Gesamtvollstreckung wahlweise nebeneinander. Es steht dann zur Disposition der Parteien, ob viele Einzelvollstreckungsverfahren nebeneinander herlaufen oder ob in einem Insolvenzverfahren das Schuldnervermögen koordiniert liquidiert wird[4].

      1.10

      Diese Lösung des deutschen Rechts ist nicht selbstverständlich. Rechtshistorisch hat sich die Einzelvollstreckung aus der Gesamtvollstreckung entwickelt[5]. Viele Rechtsordnungen praktizieren für Kaufleute das Insolvenzverfahren, für Nichtkaufleute ein Zwangsvollstreckungsverfahren, das zwischen konkurrierenden Gläubigern ausgleicht[6].

      § 2 Grundzüge des Vollstreckungsverfahrens

      S. Übersichten 1 und 2 Rn. 2.5 und 2.6.

I. Die Grundstruktur des Vollstreckungsverfahrens[1]

      2.1

      Das zivilprozessuale Erkenntnisverfahren ist auf den Erlass eines gerichtlichen Urteils gerichtet, das den Rechtsstreit der Parteien entscheidet. Für den Gang dieses Verfahrens von der Klage bis zum Urteil gibt das Gesetz Regeln, die von Prozessrechtsgrundsätzen getragen sind. Sie betreffen das Verhältnis zwischen Gericht und Parteien, den Einfluss der Parteien auf das Prozessgeschehen, die Gewinnung der tatsächlichen Grundlagen des Urteils usw. Alle diese Grundsätze und Regeln sollen letzten Endes das Verfahren so gestalten, dass der Richter das gerechte Urteil finden kann.

      2.2

      Das Ziel des Vollstreckungsverfahrens ist der Erlass des Vollstreckungsaktes zur zwangsweisen Verwirklichung des richterlichen Urteils (oder eines sonstigen Vollstreckungstitels). Es wird nicht mehr „abgewogen und entschieden“, sondern „zugegriffen“! Dass für diesen Zugriff exakte rechtsstaatliche Regeln gelten müssen, ist sicher. Aber sie müssen notwendig anders gestaltet sein als die im Erkenntnisverfahren geltenden. Das Verfahren zum Erlass eines Vollstreckungsaktes ähnelt in vieler Hinsicht dem auf Erlass eines Verwaltungsakts gerichteten Verfahren. Davon zu unterscheiden ist das Verfahren zur richterlichen Kontrolle der Vollstreckungsakte (insbesondere auf Anfechtung) und ihrer Verweigerung. Dieses Verfahren enthält notwendig wieder Züge des Erkenntnisverfahrens, da der Richter nunmehr über die Rechtmäßigkeit des Vollstreckungsaktes zu entscheiden hat (s.a. Rn. 7.33). Reines Erkenntnisverfahren sind vor allem zwei Rechtsbehelfe des Vollstreckungsrechts: die Vollstreckungsgegenklage und die Drittwiderspruchsklage. Mit der ersten macht der Schuldner geltend, dass durch nachträglich eingetretene Umstände der im Titel verbriefte vollstreckbare Anspruch weggefallen sei (§ 767). Mit der Widerspruchsklage macht ein Dritter geltend, dass ihm am Objekt der Zwangsvollstreckung ein die Veräußerung hinderndes Recht zusteht; er kämpft also um die Befreiung dieses Objekts von dem Vollstreckungszugriff (§ 771).

      Zusammenfassend kann man also das „eigentliche“ Vollstreckungsverfahren und das Verfahren der vollstreckungsrechtlichen Rechtsbehelfe unterscheiden.

II. Die Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens

      2.3

      Das Verfahren ist Antragsverfahren, die Zwangsvollstreckung erfolgt nicht von Amts wegen. Der Antrag kann lediglich im Grundsatz formlos gestellt werden, hingegen besteht für die Geldforderungsvollstreckung durch den Gerichtsvollzieher (§ 753 Abs. 3, 4) und den Antrag auf Erlass eines Pfändungsbeschlusses Formularzwang (§ 829 Abs. 4). Der Gläubiger bezeichnet – außer bei der Pfändung beweglicher Sachen – das Vollstreckungsobjekt, sofern es sich nicht schon aus dem Vollstreckungstitel ergibt. Durch den Inhalt seines Vollstreckungsauftrags kann er Einfluss auf die Art und Weise nehmen, wie der Gerichtsvollzieher gegen den Schuldner vorgeht[2]. Der Gläubiger kann jederzeit den Fortgang des Vollstreckungsverfahrens sistieren und bereits erfolgte Vollstreckungsmaßnahmen aufheben lassen, d.h. Pfandgegenstände „freigeben“.

      Man kann also in gewissem Sinne von der Geltung der Dispositionsmaxime sprechen (Rn. 6.5). Dies bedeutet aber nicht, dass das Zwangsvollstreckungsrecht dispositives Recht sei! Das Gegenteil ist richtig: „Die Voraussetzungen und die Grenzen der staatlichen Vollstreckungshandlungen sind begrifflich den Abmachungen der Parteien entzogen“[3].

      2.4

      Das Verfahren ist ein einseitiges Antragsverfahren; der Schuldner wird in aller Regel vor Erlass des Vollstreckungsakts nicht gehört; vor der Pfändung von Forderungen und anderen Vermögensrechten ist die Anhörung des Schuldners sogar ausdrücklich verboten (§ 834).

      Diese Regelung ist mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar, da dafür gewichtige Interessen sprechen (Zugriffsinteresse) und dem Schuldner Gelegenheit gegeben ist, gegen den Vollstreckungsakt – der meist keine endgültigen Verhältnisse schafft – mit Rechtsbehelfen vorzugehen[4]. Im Übrigen gilt der Grundsatz, dass der Gegner vor Erlass des Vollstreckungsakts


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