Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
Stiefle ich im Grunewald jüngst nach Schildhorn, pfeife lustig «Anne-Marie, erhör mich!», als ein Hirsch zwölf Schritte vor mir sich regt und –fort wie der Satan! 's war ein Kapitalkerl, ein Achtzehnender, wie so groß ich keinen zuvor gesehen! Keine Waffe hatt ich – und doch! er forcht sich! –:fort wie der Satan! Laß am Nordpol mich zu den Robben gehen und im ewigen Eise den Eisbären treffen – Glaubst du, daß mir einer ein Leides täte?Ebensowenig! Wär ich in der Wüste, im Löwenviertel Afrikas, ich würde mich doch nicht fürchten! Pfeifen würd ich «Anne-Marie, erhör mich»,pfeifen, ja pfeifen.
I,23 – zur wortwörtlichen Übertragung dieser Horaz-Ode (carmen I,23)
Vitas hinuleo me similis, Chloe, quaerenti pavidam montibus aviismatrem non sine vano aurar' et siluae metu. Nam seu mobilibus veris inhorruit adventus foliis, seu virides rubumdimovere lacertae et cord' et genibus tremit. Atqui non ego te tigris ut aspera Gaetulusve leo frangere persequor:Tandem desine matrem tempestiva sequi viro. | Warum fliehst du vor mir wie eine scheue Gems, Annchen, bin ich denn so fürchterlich anzuschaun?Laß die Mutter doch predigen – deine Mutter war auch mal jung. Aber kaum, daß ich mich irgendwo sehen lass', läufst du fort wie der Wind, daß es vergeblich wird,dir zu folgen – und dann zu Haus: möglichst schnell die Gardine zu. Ist das freundlich von dir? Bin ich ein Kannibal, der dich draußen im Wald braten und fressen will?Fressen – höchstens aus Liebe, Kind, so alt schon und noch so spröd! |
I,27 – zur wortwörtlichen Übertragung dieser Horaz-Ode (carmen I,27)
Natis in usum laetitiae scyphis pugnare Thracumst: tollite barbarum morem, verecundumque Bacchum sanguineis prohibete rixis. Vin' et lucernis Medus acinaces inmane quantum discrepat: inpium lenite clamorem, sodales, et cubito remanete presso. Vultis severi me quoque sumere partem Falerni? Dicat Opuntiae frater Megillae, quo beatus volnere, qua pereat sagitta. Cessat voluntas? Non alia bibam mercede. Quae te cumque domat Venus, non erubescendis adurit ignibus, ingenuoque semper amore peccas. Quidquid habes, age, depone tutis auribus. A miser, quanta laboras in Charybdi, digne puer meliore flamma! Quae saga, quis te solvere Thessalis Magus venenis, quis poterit deus? Vix inligatum te triformi Pegasus expediet Chimaera. | Beim Weine gegenständlich zu werden, ist kassubisch! Wahrt doch, Freunde, den guten Ton! Bedenkt doch, daß wir nicht in Rixdorf sondern im Westen der Hauptstadt sitzen! Ich bitt euch, laßt die Messer und Gabeln ruhn: Die Glaserrechnung wäre nicht abzusehn! Ad loca, Kinder, seid vernünftig, daß die Gemütlichkeit nicht gestört wird! Ich soll Bescheid euch tuen in Malvasier? Wohlan! doch vorher stell die Bedingung ich, daß unser Freund und Bruder Gottlieb uns seine neuesten Sünden beichte. Er will nicht? Nun so rühr ich mein Glas nicht an! Du schämst dich wohl! O Gottlieb, wenn du dich schämst... Wir kennen dich doch all' und wissen, daß keine einzige deiner wert ist! Vertrau's uns, Bester, was es auch immer sei! Wir sind wie Gräber!.....Oh, das ist bös, sehr bös! Du armer Kerl, so reinzufallen! Hättest doch bessere haben können! Prost, Gottlieb! spül's hinunter mit Malvasier – vielleicht erscheint ein Deus ex machina – – sonst freilich blieb' dir höchstens übrig, daß du die Sache in Verse brächtest. |
I,32 – zur wortwörtlichen Übertragung der Horaz-Ode (carmen I,32)
Poscimur. Siquid vacui sub umbra lusimus tecum, quod et hunc in annum vivat et plures, age, dic Latinum,barbite, carmen, Lesbio primum modulate civi: Qui ferox bello tamen inter arma, sive iactatam religarat udolitore navim, Liber' et Musas Veneremque et illi semper haerentem puerum canebat, et Lycum nigris oculis nigroquecrine decorum. O decus Phoeb' et dapibus supremi grata testudo Jovis, o laborum dulce lenimen, medicumque, salverite vocanti | Spielen soll ich! ... Wenn ich auf deinen Tasten je geübt, was bleibenden Wert verdiente – nun, so will ich heute ein Volkslied spielen,teuerer Flügel, der dem C. G. Schröter zuerst du töntest, der dich in Nordhausen um Siebzehnhundert mit dem Mechanismus der Hämmer schmückte,ferner dem Silber- mann in Freiberg, der dich mit Kunst verbessert, dann dem 1. U. Stein in der Stadt der Fugger, dem Pariser Erard, dem Streicher-Wien, demBroadwoad in London. O Klavier, du Zierde und Schmuck des Hauses, Freude, Trost und Speise du aller Ohren, laß mich auf geduldigen Tasten spielen«Santa Lucia»! |
I,33 – zur wortwörtlichen Übertragung der Horaz-Ode (carmen I,33)
Albi, ne doleas plus nimio memor inmitis Glycerae neu miserabiles decantes elegos cur tibi iunior laesa praeniteat fide. Insignem tenui fronte Lycorida Cyri torret amor, Cyrus in asperam declinat Pholoen: Sed prius Apulis iungentur capreae lupis, quam turpi Pholoe peccet adultero. Sic visum Veneri, cui placet inpares, formas atqu' animos sub iuga aenea saevo mittere cum ioco. Ipsum me melior cum peteret Venus grata detinuit compede Myrtale libertina, fretis acrior Hadriae curvantis Calabros sinus. | Albert, kränke dich nicht allzusehr um ein Weib! Sei nicht sentimental! Hat Friederike sich in den Stutzer verliebt, weil er der hübschere war –: Tröste dich! andern geht's ebenso. Schau, der niedliche Balg, Betty von Rosenberg, ist in Eduard Schmidt bis übers Ohr verknallt –: Dieser (...) poussiert Else, die spröde Maid, doch soweit ich die Else kenn, darf man kecklich vertraun, daß sich ein Schmetterling eher mit einem Mops bräutlich verbinden wird, als ihn diese erhört. Ja, wie die Liebe spielt, ist ein langes Kapitel, Freund! Stand ich selber doch einst vor der Verlobung schon, – Exquisite Partie! –, als eine Nähterin mir mein Herz überfiel und es in Fesseln schlug –, 's war fatal, aber schön war's doch! |
II,3 – zur wortwörtlichen Übertragung der Horaz-Ode (carmen II,3)
Aequam memento rebus in arduis servare mentem, non secus in bonis ab insolenti temperatam laetitia, moriture Delli,seu maestus omni tempore vixeris, seu t' in remoto gramine per diesfestos reclinatum bearisinteriore nota Falerni. Quo pinus ingens albaque populus umbr' hospitalem consociar' amantramis? Quid obliquo laboratlympha fugax trepidare rivo? Huc vin' et unguent' et nimium breves flores amoenae ferre iube rosae,dum res et aetas et sororumfila trium patiuntur atra. Cedes coemptis saltibus et domo, villaque, flavus quam Tiberis lavit,cedes, et exstructis in altumdivitus potietur heres. Divesne, prisco natus ab Inacho nil interest an pauper et infimade gente sub divo moreris;victima nil miserantis Orci. Omnes eodem cogimur, omnium versatur urna serius ociussors exitur' et nos in aetern'exili' inpositura cumbae. |
«Kalt Blut und warmes Untergewand!» das ist ein alter Satz, ob minus, ob plus du machst.Wozu die Überschwenglichkeiten?Holt doch auch, Freundchen, der Teufel dich einst, ob du mit Schopenhauer die Welt verwünschst, ob jeden Sonntag du bei Kempinsky direin Austernmahl mit Sekt geleistetund eine schwere Export-Havanna! Du bist gesund, bist Kapitalist, bist jung, du hast die schönste Villa am Strand der Spree,in deinen Park verliebt sich jeder –hörst du die Quellen nicht lieblich flüstern? Und zieht's dich nicht zur marmornen Ruhbank dort, darauf der Ahorn schützende Schatten wirft?Ein kühles Weinchen dort zu trinken,denk ich mir, müßte ein Hochgenuß sein. Doch freilich, spar dir jegliche |