Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
Das Sterben hast gemein du mit Hinz und Kunz –: Es ist das Gras das einzige Kraut, dareinso reich wie arm gemeinsam beißenund sich den Magen daran vertun muß. Auf alle harrt vergnüglichen Blicks Freund Hein und dreht sein knarrendes Glücksrad um und um,und jede Ziffer ist ein Treffer,ist eines Sterblichen arme Seele.
II,19
Bacch' in remotis carmina rupibus vidi docentem, credite posteri,nymphasque discentes et auriscapripedum Satyror' acutas. Euhoe, recenti mens trepidat metu, plenoque Bacchi pectore turbidum laetatur. Euhoe, parce Liber,parce, gravi metuende thyrso. Fas pervicacis est mihi Thyiadas, vinique fontem lactis et uberes cantare rivos atque truncislapsa cavis iterare mella; fas et beatae coniugis additum stellis honorem, tectaque Penthei disiecta non leni ruinaThracis et exitium Lycurgi. Tu flectis amnes, tu mare barbarum tu separatis uvidus in iugis nodo coherces viperinobistonidum sine fraude crines. Tu, cum parentis regna per arduum cohors Gigantum scanderet inpia, Rhoetum retorsisti leonisunguibus horribilique mala; quamquam choreis aptior et iocis ludoque dictus non sat idoneuspugnae ferebaris; sed idempacis eras mediusque belli. Te vidit insons Cerberus aureo cornu decorum, leniter atterens caud', et recedentis trilinguiore pedes tetigitque crura. | Gambrinus selber sah ich am Nockherberg Kneip'nlieder lehren – glaub es, ungläubig Volk! –Vor saubrer Münchner Kellermadelnund der Studenten gespitzten Ohren. Rum plum! Noch bebt der Leib mir vom Biergenuß, und aus mir redet stürmisch der Gerstensaft – rum plum, o schone mein, Gambrinus,Gott mit dem schrecklichen Tier im Wappen. Die Radiweiber laßt mich besingen laut, das Hofbräuhaus, die Brezel mit Salz beschneit, das Bockbier, das aus Steinzylindernölig wie Honig den Schlund hinabläuft! Besingen auch die wartende Ehefrau, die eingeworfnen Fenster des Mannes, der dem Morgenschoppen Feind gewesen,und die bierfeindlichen Philosophen! Du zähmst, Gambrinus, selbst ein Barbarenherz –: In eines Theologen Gestalt charmierst mit hübscher Kellnerin Gelock du,ziehst ihr die Schleife des Schürzenbands auf; In eines Mediziners Gestalt einmal hast du den Haufen drängender Gläubiger mit Maßkrugsalven aus dem Tempeldeines olympischen Reichs getrieben. Obschon man dich für stärker im Rundgesang und Renommieren als in dem Faustkampf hält,so zeigst du doch, gereizt, so wild dich,wie du gemütlich dich gibst im Frieden. Der Nachtpolyp mit goldenem Tutehorn – ein Auge drückt er schmunzelnd, der Brave, zu, sieht Arm in Arm er deine Söhnejohlend durch nächtliche Gassen traben. |
III,9
«Donec gratus eram tibi nec quisquam potior bracchia candidae cervici iuvenis dabat; Persarum vigui rege beatior.» «Donec non alia magis arsisti nequ' erat Lydia Post Chloen; multi Lydia nominis Romana vigu' e- larior Ilia.» «Me nunc Thressa Chloe regit, dulces docta modos et citharae sciens, pro qua non metuam mori, si parcent animae fata superstiti.» «Me torret face mutua Thurini Calais filius Ornyti, pro quo bis patiar mori, si parcent puero fata superstiti.» «Quid si prisca redit Venus diductosque iugo cogit aheneo? Si flav' excutitur Chloe, reiectaeque patet ianua Lydiae?» «Quamquam sidere pulchrior ill' est, tu levior cortic' et inprobo iracundior Hadria: Tecum vivere amem, tec' obeam libens!» | «Als ich Hahn noch im Korbe war, und kein andrer Mund sich auf das braune Mal deines schneeigen Nackens bog – Bombenkreuzelement! Mädel, die Zeit war schön!» «Als du sonst keine Flamme hatt'st und kein andrer Zopf dir in die Augen stach – ach, wie stolz war die Gretel da, und wie platzten vor Neid all' meine Freundinnen!» «Ich poussiere die Frieda jetzt. Waldmann spielt die und Strauß; oh, und sie singt sehr nett! Wär's daß eins von uns sterben müßt', sagt' ich: Frieda, du bleibst! Ich sterbe gern für dich!» «Ach, ich bin so verliebt in den Max, – sein Vater, der ist polnischer Adliger! Wär's daß eins von uns sterben müßt', sagt' ich: Maxchen, ich leid zehnmal den Tod für dich!» «Hm! – Was sagtest du wohl, wenn nun Amor wieder den Zwist lächelnd begütigte? Wenn die Frieda passée wär und mein verstoßener Schatz offen fänd Herz und Tür?» «Maxchen freilich ist tadellos – du hingegen ein leichtsinniger Sausewind! Doch trotz alle- und alldem – du mein Leben und Tod, mach mit mir, was du willst!» |
III,12
Miserarumst nequ' amori dare ludum neque dulci mala vino laver' aut ex- animari metuentes patruae verbera linguae. Tibi qualum Cythereae puer ales, tibi telas operosaeque Minervae studi' aufert, Neobule, Liparaei nitor Hebri, simul unctos Tiberinis umeros lavit in undis, eques ipso melior Bel- lerophonte, neque pugno neque segni pede, victus catus idem per apertum fugientes agitato grege cervos iacular' et celer arto latitantem fruticet' exciper' aprum. | Welch ein Elend, arme Kleine, wenn der Tante böse Zunge dir unschuldiger Poussaden, ja sogar des Kaffeekränzchens süße Freudenwelt verkümmert! Ach, ich sah dich wohl, Helenchen, jüngst am Fenster träumend sitzen, umgefallen lag der Nähkorb und der Wollknäul ohne Regung – plagt dich der bewußte Leutnant? Hast ihn wohl einmal vom Dampfer in dem Flusse schwimmen sehen... Durch den Stadtpark galoppieren... Im Lawn Tennis triumphieren... Seine Kompagnie formieren... Oder gar auf Onkels Landgut...: wenn die Kavaliere kamen und vor allen Er das meiste Edelwild – und mit ihm (nicht wahr?) stets auch dich zur Strecke brachte? |
III,21
O nata mecum consule Manlio, seu tu querellas sive gens iocosseu rix' et insanos amores,seu facilem, pia testa, somnum, quocumque lectum nomine Massicum servas, moveri digna bono die, descende, Corcino iubentepromere languidiora vina non ille, quamquam Socraticis madet sermonibus, te negleget horridus; narratur et prisci Cantonissaepe mero caluisse virtus. Tu lene torment' ingeni' admoves plerumque duro; tu sapientium curas et arcanum iocosoconsilium retegis Lyaeo; tu spem reducis mentibus anxiis viresqu' et addis cornua pauperi, post te nequ' iratos trementireg' apices neque milit' arma. Te Liber et si laet' aderit Venus segnesque nodum solvere Gratiae, vivaeque producent lucernae,dum rediens fugat astra Phoebus. | Heut soll der Zweiundsechziger endlich dran, der jenes Jahr, da Bismarck Minister ward,gleich mir sich zum Geburtsjahr wählte!Mag er in Melancholie mich stürzen, mag Scherz und Spott, mag hitzige Händelsucht, mag Liebeswut, mag friedlichen Schlummer er uns bringen! ... Bitte schön, Frau Lehmann!Hier sind die Schlüssel: die Flasche Rheinwein! Ich denke, Karl, du wirst doch kein Unmensch sein, obzwar Dozent der Philosophie du bist: – Verwarf's doch selbst der strenge Kant nicht,manchmal ein Gläschen vergnügt zu trinken. Ein Weinchen! oh, ich sag dir, ein Weinchen, Freund! Bei dem ein Klotz Ekstatiker werden muß, bei dem die kniffigsten Schlaumeier inihre Karten sich gucken lassen. Ein Saft, der jede Sorge zur Hölle jagt, der jeden Tropfen Blutes dir glühend macht, daß stolz du wirst vor Königsthronenund vor des Staatsanwalts Auge furchtlos. Vor fünf Uhr morgens gehn wir heut nicht zu Bett. So lang das Öl im Becken der Lampe reicht laß froh die Stunden uns verplaudern!Prosit, amico! auf: «Was wir lieben»! |
III,22