Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
(d.)
Oben stille, bleiche Lämmer,
drunter sonngoldschwere Züge,
trotz erhöhter Hellnis Lüge
ohne Wehr dem nahen Dämmer.
18. August 1896
Wer doch den trüben Wahn erfunden,
daß keine Seele glücklich sei!
Ich war's, ich bin's! in reichen Stunden
von aller kleinen Trübsal frei.
Nicht wahrlich, da mit heisrem Atem
die Menge mir den Weg verbellt, –
doch nun Suleika sich und Hatem
mit goldnen Liedern mir gesellt.
Nun da Natur mich treu umbreitet
mit Tannen, hehr wie Hafis' Geist,
und drüber mir die Blicke weitet,
bis, wo der letzte Fels vereist.
Wie sollt ich da nicht Mensch sein mögen,
ein weltverleumderischer Tropf!
So gern sie auch herunter bögen
den heitren, hochgemuten Kopf.
Abendbeleuchtung
19. August 1896
Wie sich die Gebirge bauen,
Sonnenspätlichts überboten,
fern zurück: von milchig blauen
bis zu violett- und roten!
»Dichter«?
20. August 1896
Nur nicht eignen Gang bespähen!
Immer kopfhoch weiter wandern!
Bald genug, und gleich den andern
wirst du im Register stehen.
Briefe
(d.)
Briefe von den beiden treusten,
liebsten, schönsten Weggenossen!
Ihr in dritten Freundes Fäusten:
Und der Zirkel ist geschlossen.
Vor einem Wasserfall
(d.)
In breiten Spießen stürzt die Flut zu Tal,
noch mehr, in lang hinabgedehnten Brüsten – –
bis endlich wehnder Staub der letzte Strahl
und hier und dort gestreut nach Winds Gelüsten.
»Leberbrünnl«-Schlucht
(d.)
Jeden Abend, den ich kehre
aus der Täler weitem Lauf,
geht mein Herz in Dank und Ehre
deiner stillen Schönheit auf.
21. August 1896
Freundin Phanta hat unzweiflich
mich hier oben schnöd verlassen,
doch Faulenzen, Schlafen, Prassen
macht es unliebsam begreiflich.
Natur spricht
(d.)
Mußt denn um mein ewig Leben
immer arme Verse spinnen?
Glaubst du Größeres zu geben,
wo so Großes zu gewinnen?
Laß die undankbaren Musen,
bin ich Mutter nicht von allen?
Besser als an ihrem Busen
wirst du dir bei mir gefallen!
Ich antworte
Ach wenn ich gewinnen könnte
kindesweich noch wie vor Jahren!
Allzufrüh schon, Mutter, gönnte
mir mein Stern, allein zu fahren.
Kannst mir Lieb' und Heimat geben?
Für mich Tote neu mir schenken?
Dunkles Irrn, verfehltes Streben
in Vergessens Abgrund senken?
Kannst du neu mich selber schaffen?
Nochmals dich in mich verschwenden?
Kannst du beßre Lebenswaffen
tatbereitem Sohne spenden!
Nein, auch du kannst mich nur trösten.
Hilfe kommt allein von innen.
Meiner Lebenswerte größten
werd' ich nur durch mich gewinnen.
Nebel ums Haus
(d.)
Ein Dunstgewölb, wie ich noch keines sah!
Durchbleicht von außen von des Vollmonds Schein!
Auf kleiner Insel dünk' ich mich allein –
bin ich Napoleon auf St. Helena? ...
Der nahe Bach gibt lauter Brandung Ton ...
Durchs Tannicht schimmert's hell – wie meilenweit ...
Ich brüt' in ungeheure Einsamkeit ...
Nach Englands Küste kehrt Bellerophon.
Zum Abschied an F.-L.
22. August 1896
Wie