Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
sind das, Sterne, Vater?« »Späh einmal,
wenn nachts im Nebel wühlt der wilde Wind.
Vielleicht erspähst du einen stillen Strahl:
Der kommt von Welten, die unendlich fern;
uralte Sagen rühmen ihre Zahl.«
»Doch Vater, sprich, wie alt ist solch ein Stern;
denn gleiches Alter gabst den Menschen du?«
»Das, kleiner Frager, wüßt ich selber gern!
Sieh, Kind, zähl' tausend Jahren tausend zu
und abertausend, zähl' solang du magst, –
dein Hirnchen käme nimmermehr zur Ruh!
Kein Mund weiß Antwort dem, wonach du fragst:
Denn keine Rechnung führt dahin zurück,
daran neugierig du zu rühren wagst ...
Doch alter Märchen weiß ich manches Stück –
noch mehr die Mutter! Willst du? geh hinein!
(Oh Kinderherz mit deinem kurzen Glück!)«
Kaum ward es Tag, schon bricht die Nacht herein ...
Der Knabe läuft nach einem plumpen Bau ...
Im Aug' des Mannes glimmt ein stierer Schein ...
Ein tiefes Graun verwehrt mir weitre Schau.
Der Born
Im Garten Gottes
wirft ein Born
sein Silber
Tag und Nacht empor:
Ohn maßen stürzt
die Flut hinauf
und fällt zurück,
ein Perlenmeer.
Urewig türmt
der Strahl sich ab
und baut sich wieder
aus sich selbst,
urewig kreißt
der Schoß und nimmt
Empfängnis
von der eignen Frucht.
In Silberschauern
wirbeln sich
Legionen Tropfen
durch den Raum ...
Im Garten Gottes
spielt ein Born
gedankenlos
das Spiel der Welt.
Der Urton
Fernher schwillt
eines Dudelsacks
einförmig-ewigwechselnde
Melodie:
Unaufhörlich
hebt sich und senkt sich
über dem Urton
ihr unerfaßliches Spiel.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Auf dem ehernen Tische
Unendlichkeit
liegt unermeßlicher Sand gebreitet.
Da streicht ein Bogen
die Tafel an:
Einen Ton
schwingt und klingt
die fiebernde Fläche.
Und siehe!
Der Sand
erhebt sich und wirbelt
zu tausend Figuren.
Aus ihnen,
den tanzenden,
tönenden,
glühenden
schlingen sich Tänze,
binden sich Chöre,
winden sich Kränze,
umringen sich,
fliehen sich,
finden sich wieder.
Aber das Spiel
der Formen, Farben und Töne
durchbrummt
unaufhörlich,
beherrscht
fürchterlich-unerfaßlich
der tiefe Urton.
. . . . . . . . . . . . .
Fern verschwillt
des Dudelsacks
einförmig-ewigwechselnde
Melodie.
Dorf, Wald, Welt
versinkt mir
schweigend
in Nacht.
Der einsame Turm
Wer laut von diesem längst verlaßnen Turm
der Tannen Ringwald überrufen wollte,
und trüge, was er riefe, stärkster Sturm,
ihm ahnte, daß es nie ein Ziel errollte.
So einsam steigt der alte Bau empor;
er fühlte Fürsten einst auf seinen Stufen,
bis, dunkler Taten schauerlich verrufen,
sein stiller Reiz der Menschen Gunst verlor.
Nur daß von Jägern sich zuweilen wer
vorbei verirrt, von wanderfrohen Seelen,
von Bettelpack, und wer die Kreuz und Quer
den Forst durchschleicht, sich Holz und Wild zu stehlen;
nur daß an seinem Fuß zuweilen sich,
wie heut, Zigeunervolk sein Reisig schichtet
und mit der Bogen wehmutwildem Strich
sein Weltweh in den fremden Frieden dichtet.
In allen Kronen hängt noch goldner Glanz ...
Die Sonne säumt noch, ihren Tag zu enden ...
Der Söllerblöcke halb zerfallnen Kranz
umlodert noch ihr scheidendes Verschwenden ...
Und aus dem Purpur schwillt es wie ein Born,
ein Strom von Tönen –: Abends erst Erschauern
erregt des Turms uraltes Äolshorn,
der Sonne nachzujauchzen, nachzutrauern.
Die Heimatlosen drunten horchen auf – –.
Und einer nimmt die Geige von den Knien
und strebt mit manchem jähen Sprung