Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
einer solchen Nacht des Drangs der Säfte
geschah der dunkle, unerhörte Fall,
daß aus dem Übermaß der Lebenskräfte
ein Strom in jenes Paar hinüberrann
und es mit trügerischem Leben äffte –:
Herab zur Erde springen Weib wie Mann ...
Und stürmisch, wie sich Glut und Flut umfassen,
vergessen sie den langen, kalten Bann ...
Doch schon beginnt die Lippe zu erblassen,
versagt das Blut den weitern tollen Lauf –:
Sie müssen schaudernd von einander lassen ...
Nach ihren Säulen streben sie hinauf –
allein umsonst –: Sie sinken, wo sie stehen:
Und wieder nimmt sie Steines Starrheit auf.
Zwölf Monde gingen hin, seit dies geschehen,
als gleicher Frist das Gleiche sich begab:
Man wachte auf, doch Venus – lag in Wehen!
Und alsobald erscheint ein muntrer Knab',
zum Leben sichtlich denn zum Tod bereiter,
und bricht sich schon ein Birkenreislein ab ...
Und während Mars und Venus innig heiter
ihm zusehn, zielt er schon nach links und rechts
auf Mäuse, Hummeln, Vögel und so weiter.
Und merkt es nicht im Eifer des Gefechts,
daß seine Eltern still und stiller werden, –
bis plötzlich er der Letzte des Geschlechts.
Er springt hinzu mit kindlichen Gebärden,
er ruft und tastet, –: Stein und nichts als Stein!
Und eben erst entrückt dem Schoß der Erden,
von niemandem belehrt als sich allein,
verwirft er endlich all die eitlen Fragen
und richtet sich in seinem Reiche ein.
Ein freundlich Heer von ungetrübten Tagen,
so schien es, war dem losen Schelm beschert ...
Wie manches Tierherz mußte ihn verklagen:
Denn ach wie manches ward von ihm versehrt!
Wenn früher schon die Liebe hoch hier blühte,
so war ihr jetzt kein Herz mehr abgekehrt.
Bis eines Tags ein Paar bekränzter Hüte,
seit Jahr und Tag das erste Menschenpaar,
sich kreuz und quer den alten Park durchmühte.
Weh, Amor! nun ereilt dich die Gefahr! –:
Denn, kaum daß jene durchs Gebüsch gedrungen, –
der kleine Gott schon Stein geworden war.
»O sieh doch! sieh!« so jubeln sich die jungen
Entdecker zu – »Ein Fund! ein Schatz! ein Hort!«
Das Mädchen ist zu Amorn hingesprungen –:
Der spielt noch, steinern, seine Rolle fort
und steht mit trotzig aufgespanntem Bogen –
und treibt den Jüngling so zum rechten Wort ...
Von jäher Röte Flammen überflogen,
bekennt sein Lieb sein Werben ihm zurück –
und fühlt sich schon an seine Brust gezogen ...
Wer glaubte nicht der beiden reinem Glück?
So laßt uns nur die Frage noch beschwichten,
wie sich beschließt das wunderliche Stück.
Man wollte auf den Kleinen nicht verzichten
und nahm ihn mit, er war ja »herrnlos Gut«!
Die Eltern glückt' es wieder aufzurichten.
Sie ließ man wieder in der Wildnis Hut.
Sie blicken immer noch voll Zärtlichkeiten,
doch ewig nun erloschen schweigt ihr Blut.
Indessen steht vor Amor man (dem Zweiten),
als allbekanntem »Raub«, bewundernd da ...
Man glaubt, er stamme aus Canovas Zeiten ...
Ich aber lächelte, als ich ihn sah.
Der zeitunglesende Faun
Auf einem Eichenstrunk, die Ziegenbeine
behaglich überschlagen, sitzt ein Faun
und liest in einem alten Zeitungsblatt,
das er im Walde irgendwo gefunden.
Ein Feuilleton »Die Presse, ihre Macht
und heilige Mission« beschäftigt ihn.
»Die Presse« liest er »ist das Fundament
der heutigen Kultur, der stärkste Hebel
geistigen Fortschritts, höherer Gesittung.
Sie ist die Lehrerin, Erzieherin
und Richterin der Völker! Nichts entzieht sich
der Allmacht ihrer Kritiker: Sie prüft,
beleuchtet alles, was du denkst und tust,
sie ist die vornehmste, stets wachsame
und drum so wichtige Vertreterin
der öffentlichen Meinung. Papst und Kaiser
umbuhlen sie. Und bis herab zum Bettler
sieht alle Stände, alle Klassen man
ihr unterworfen und gezwungen, sie
zu respektieren. Und noch mehr, noch mehr!
Sie ist das unentbehrlich-wichtigste
Verkehrs- und Bildungsmittel unsrer Zeit:
Bezieht ein großer Teil der Menschheit doch
heut sein gesamtes Wissen aus der Zeitung!
Denn mehr und mehr verdrängt die Tagespresse
der langen Bücher zweifelhaften Wert:
Der Menschen Kraft, Bedürfnis nehmen heut
die Zeitungen und Zeitschriften in Anspruch,
sodaß der Sammlung fordernden Lektüre
kein Raum mehr bleibt. Die für den Tag geschriebnen
und mit dem Tag vergehnden Zeitungen,
sie wirken eben rascher als die dicken,
gedankenschweren Bücher, ja noch mehr!
In ihren Händen liegt das Schicksal aller
schriftstellerisch- und dichterischen Werke!«
Mit breitem Grinsen liest es der Panisk,
und seine Flöte an die Lippen langend,
erhebt er sich und trabt vergnügt waldein.
Ein Wiesel raschelt unterm Stamm hervor;
die