Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
Inhaltsverzeichnis
»Der dort unten ruht jetzund,
sein Schatten stieß ihn in den Grund.
Am steilen Fels den schmalen Gang
klomm verwegen er entlang.
Scharf lag auf ihm das Mittagslicht,
der Schweiß rann ihm übers Gesicht.
Da blieb er, sich zu trocknen, stehn –
muß dabei seinen Schatten sehn.
Und wie er ihn sieht, reckt sich der
von der Wand gegen ihn her.
Den Wandrer fasset bittre Not,
er fühlet, neben ihm steht der Tod
und drängt ihn in das tiefe Grab
der wilden Felsenschlucht hinab.
Er sinkt zusammen in kaltem Schweiß,
alles dreht sich mit ihm im Kreis.
Er preßt die Stirn an den kalten Stein
und denkt an Weib und Kinderlein.
Aber der Tod hatt' gewonnen Spiel
und schob und stieß ihn, bis daß er fiel.
Eine Dirn aus unserm Dorf hat's geschaut,
ein fremder Maler den Stein aufgebaut,
die Verse sind von der alten Kathrein.
Sprecht: Armer Wandrer, wir denken Dein!«
Am Moor
Flackernd lösen sich vom Sumpf
ungewisse Schemen ...
Nach der alten Weide Stumpf
sieh den Weg sie nehmen.
Auf dem Stumpfe sitzt der Tod:
Dumpfe Fiedel lockt und droht
mit verworrnen Themen.
Huschend schlingt der wirre Kreis
sich um Tod und Weide ...
Um die Flämmchen schimmert's weiß
wie von feinster Seide.
Knaben, Mädchen, Männer, Fraun
glaubst wie Schatten du zu schau'n
tief im Totenkleide.
Und ein Seufzen hebt sich her,
düster dich zu bannen ...
Schaudernd fühlst du: Schon will Er
dein Gemüt entmannen.
Der Gespenster Reihn erschrickt?
Haben sie dein Haupt erblickt?
Und du eilst von dannen.
Im Fieber
Ich lag in Fieberphantasien ...
Aus allen Ecken wuchs es her ...
Wohin ich sah, ich sah nur Ihn,
wohin ich tastete, war Er ...
Die Tücher, die Tapeten liehn
ihm ihrer Muster Fratzenmeer ...
Und schloß ich fest die Lider, schien
sein Aug' in meines weit und leer.
Ein Opfer wilder Bilderreihn
entschlief ich endlich. Mich umspann,
mich spornte rittlings sein Gebein
durch Felsenwüsten glutwindan ...
Verzehrend fraß sein Frost sich ein,
indes mich Blutschweiß überrann,
und auf Geröll und spitzem Stein
der wunde Fuß nicht Weg gewann.
Doch nicht ein Fristchen durft' ich ruhn.
»Wir müssen« – stachelte sein Hohn –
»Zum Richter über all dein Tun,
der Weg ist weit nach seinem Thron.
Gebucht, in klaftertiefen Truhn,
erharrt dich dort, wofür dich Lohn
und Strafe wird ereilen nun:
Bereite dich, verlorner Sohn!«
Da ging die Stubentür, und leis
umklang mein Bett ein sanfter Schritt,
und eines Stirnbands kühlend Eis
erlöste mich vom grausen Ritt.
Doch ehe noch ein Wort dem Kreis
der Wirrgedanken sich entstritt,
verschob schon wieder sich das Gleis
und neuer Traumgang riß mich mit.
Wie anders aber war das Bild,
das nun mein Fiebergeist entband!
Mein liebster Freund umfing mich mild
und hob mich von des Lagers Rand.
Aus Zweigen harrte mein ein Schild:
Drauf trug mich vierer Fremden Hand
wie ein erbeutet Edelwild
hinaus ins sommerliche Land.
Wer waren sie? wo lief ihr Pfad?
Sie stürmten voll erhabner Wucht ...
bis, wo ein Lärm vollbrachter Mahd
herklang aus stiller Waldesbucht.
Noch rollte hoch das Sonnenrad,
doch schon geschnitten lag die Frucht;
denn Wolken drohten Blitz und Bad:
Und alles war schon helle Flucht.
Dort setzten sie aufs hohe Korn
die Bahre ab. Noch stand sie nicht:
Da schoß schon goldner Wetterzorn:
Ein Glutstoß stob die Ährenschicht.
Mein Herz stand still vom scharfen Dorn.
Es sank der Erde höchst Gedicht,
der Mensch, zurück in ihren Born,
als Asche, Wasser, Luft und Licht.
Eine Großstadt-Wanderung
Eine lange Gasse war mein Nachtweg.
Vor mir schalt ein Kerl mit seiner Dirne,
hohl zerbrach der Hall am Wall der Wände.
Nun ein kurzer Kampf – und gellend schreiend
floh das Weib den Weg an mir vorüber.
Aus dem Dämmer tauchten, wie dem Boden
jäh entwachsen, drohende Gestalten,
Pfiffe