Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
durchziehen ...
Und wie so Wind und Seele sich verweben,
erwachen mehr und mehr der treuen Geigen ...
Ein aller Leidenschaften schluchzend Leben
erstürmt des Himmels immer tiefres Schweigen.
Gefangen folgt zuletzt die ganze Schar
der Windposaune wunderlichen Launen ...
Nun rast es tollkühn, unberechenbar ...
Nun stockt es wie in fragendem Erstaunen ...
Oh Sonne! Sonne! Mutter! Mutter! flehen,
verzweifeln, weinen, drohen all die Stimmen
und drohn und flehn in immer bangren Wehen,
je mehr des Tages Brände rings verglimmen.
Doch droben – seht ihr? die Zigeunerin!
Entstahl sie sich dem Kreis der braunen Söhne?
Wo kam sie her, das Weib? Wie kam sie hin?
Wie wächst sie hoch in schattenhafter Schöne!
Und hört ihr – hört! wie ihre Lippen singen –
ein Lied, das endlich alles überwindet,
in sich die andern Stimmen alle bindet,
damit Natur und Menschheit sie umklingen.
Es ist das tiefe Lied der Einsamkeit,
das Königslied der großen Ungekrönten,
das Klagelied der würdelosen Zeit,
das Trutzlied aller nur mit sich Versöhnten,
und ist der Weisheit gütiger Gesang,
des Willens jugendewiges »Es werde!«,
der Liebe Durst und Pein und Überschwang,
es ist das Schicksals-Hohelied der Erde.
Der Wald ward still. Kein Hauch im Wipfelschweigen.
Der Sterne Chor bewegt sich klar herauf ...
Und schlanke Leiber, edle Häupter zeigen
sich hoch vom Turme seinem ernsten Lauf ...
Die überall Verstoßenen, sie wohnen
in der Unendlichkeit azurnem Zelt –:
Um ihre Stirnen brennen bleiche Kronen,
und ihre Seelen sind der Sinn der Welt.
Waldluft
Aufforderung
Stiller Wälder süßen Frieden
laßt uns suchen und genießen!
Stätten, heimlich, abgeschieden,
mögen uns der Welt verschließen!
Seht ihr dort das braune Tierchen –
unsern kleinen Nüsseknacker,
unser schelmisches Possierchen,
unsern blitzbehenden Racker?
Wirf uns nicht mit Bucheneckern,
Kätzchen, führ uns leise Wege,
wo Gelächter heimlich meckern,
kommen Menschen ins Gehege ...
Nachtigallenchor dem Reigen
lichter Elben schlägt und flötet,
bis der Mondnacht Silberschweigen
erste Frühe überrötet ...
Wo auf großgeäugter Hinde
lauscht die stumme Elbin Stille,
wenn das Ungestüm der Winde
endlich zwang ihr flehnder Wille ...
Wo der Gnomen kluge Völkchen
aus Irrflämmchen, Neumond-Tauen,
Regenruch, Gewitterwölkchen
ihr geheimes Wissen brauen ...
Stiller Wälder süßen Frieden
laßt uns suchen und genießen!
Stätten, heimlich, abgeschieden,
mögen uns der Welt verschließen!
Krähen bei Sonnenaufgang
Noch flieht der Blick des jungen Tags
der Berge nebelgraue Gipfel,
und schon entschwebt, gemeßnen Schlags,
die erste Krähe ihrem Wipfel.
Der schwankt, befreit von schwerer Last,
daß rings die Zweige sich bewegen:
Fahlsilbern sprüht von Ast zu Ast
des Frühtaus feiner Flüsterregen.
Doch eh sein Flüstern noch erstickt,
enttönt ein »Krah« dem stillen Raume:
Der Vogel hat am Wolkensaume
das erste blasse Rot erblickt.
Auf allen Wipfeln wacht es auf
und schüttelt sich und ruft nach Taten ...
In lautem Streiten und Beraten
erhebt sich endlich Hauf um Hauf.
Nur zwei Gewitzte warten schlau,
bis alles nach und nach verstoben,
sie wissen einen nahen Bau,
den gestern Jäger ausgehoben.
Ein Käuzleinflügel harrt hier noch,
die Kecken lecker zu belohnen –:
Das Paar umkreist erregt das Loch ...
Braungolden glänzt das Meer der Kronen ...
Das Häslein
Unterm Schirme, tief im Tann,
hab ich heut gelegen,
durch die schweren Zweige rann
reicher Sommerregen.
Plötzlich rauscht das nasse Gras –
stille! nicht gemuckt! –:
Mir zur Seite duckt
sich ein junger Has ...
Dummes Häschen,
bist du blind?
Hat dein Näschen
keinen Wind?
Doch das Häschen, unbewegt,
nutzt, was ihm beschieden,
Ohren, weit zurückgelegt,
Miene, schlau zufrieden.
Ohne Atem lieg ich fast,
laß die Mücken sitzen;
still besieht mein kleiner Gast