Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
Geier Nord fliegt übern Wald,
in einen grauen Sack gekrallt,
er hat nicht leicht zu tragen.
Er fliegt zu niedrig ob der Erd',
die Fichten drohen ihm Gefährd',
die dort so spitzig ragen.
Da ... schon ... da hängt das Wolkentuch!
Hörst du des Geiers grausen Fluch?
Er muß es fahren lassen:
Und aus dem aufgerißnen Sack
spreun lustig sich auf Tann und Hag
Frau Holles weiße Massen.
Erdmännlein halten hohle Hand
und schmücken mit dem Glitzer-Tand
laut kichernd ihre Weiblein.
Die stelzen hoch daher, doch weh!
schon schmelzen die Geschmeid' aus Schnee,
und naß sind alle Leiblein.
Am Himmel kommt der Nord zurück
mit einem neuen Wolkenstück, –
doch wieder bleibt es hängen.
Wenn das so fort geht –, Leutlein, rennt
nach Haus, sonst wird das Element
euch ernstlich noch bedrängen!
Das Völklein läuft. Der Geier gibt's
voll Trotz nicht auf – und endlos stiebt's
aus aufgespießten Säcken ...
Den ganzen Tag, die ganze Nacht ...
Wohl tausend Stück, von ihm gebracht,
den Waldgrund nun bedecken.
Zwischenstück
Fusch-Leberbrünnl
(Herzogtum Salzburg)
Tagebuch-Fragment
10.-22. August 1896
Vor einem Gebirgsbach
Nulla dies sine linea
10. August 1896
Waagrecht diese Wasser, – und zu Ende
Wellenspiel und jähe Formenwende!
Wo liegt's? Der Wechsel selbst, für sich allein?
Der Wechsel nur in mir, nur Form, nur Schein?
11. August 1896
Dunkel von schweigenden Bergen umschlossen,
vergessen die Welt wie ein Puppenspiel,
nebelumflossen, regenumgossen,
doch in der Brust ein leuchtendes Ziel.
12. August 1896
Hinaus in Nebel und Regen,
wie stark auch der Himmel trauft!
Mit Sprühwasser-Morgensegen
die junge Stirne getauft!
14./15. August 1896
Spät von Goethe und andrem Wein
hab ich mich des Nachts getrennt –:
Legionenfacher Schein
überfloß das Firmament.
Wie ein Silberschauer rann
grenzenlose Sternenpracht
über Gipfel, Hang und Tann
durch die tiefe, heilige Nacht.
Morgen
15. August 1896
Nun sind die Sterne wieder
von blaßblauer Seide verhüllt,
nun Näh' und Ferne wieder
von junger Sonne erfüllt.
Ihr weißen Wasser, die ihr
hinab zur Ebne springt,
oh sagt den Freunden, wie mir
das Herz heut singt und klingt.
Und doch!
(d.)
Und doch, ich sag es frank und rund,
mir fehlt noch was zum Glücke –:
Ein lieber, süßer Mädchenmund,
ein Arm, der meinen drücke,
ein Aug, darein ich glänzen könnt'
mein jubelndes Empfinden,
ein Blondhaar, das ich Keinem gönnt'
sich um die Hand zu winden.
Nebel im Gebirge
Schwerer Nebel dunkle Lasten
sinken von dem Schnee der Kämme
über öde Herdenrasten
in des Tannichts finstre Stämme.
Nur des Baches bleiche Brandung
rauscht und leuchtet noch gerettet, –
bis die düstre Dunstgewandung
endlich ihn auch überbettet.
Vor zurückgeschickten Versen
16. August 1896
Urteilsloser Nörgler Schlag
ruhig schelten lassen!
Müssen dich nach Jahr und Tag
dennoch gelten lassen.
17. August 1896
Schlechte Wittrung trägt sich gut,
wenn die Luft nur rein ist;
Städtedunst verdirbt das Blut,
selbst wenn Sonnenschein ist.
(d.)
Möcht' es wohl hier oben wagen,
Apostat vom Tinten-Grale,
mit des Bergstocks hartem Stahle
Runen in den Fels zu schlagen!
Abendliche Wolkenbildung