Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
von des Bergwalds dunklem Saume
verzückt und schmerzlich niederschaun!
Friede
Wie weich sich Form und Farbe binden
in Sommermittags glühem Hauch: –
Das Dorf im Schatten alter Linden,
ein rötlich Dach, ein Wölkchen Rauch;
der Bergbach, dessen heitre Eile
sich glitzernd durch die Wiese webt;
der Straße laubverhüllte Zeile,
die ahndevoll zur Ferne strebt;
und all dies gütig eingeschlossen
von hoher Felder Gold und Duft;
und alles flimmernd überflossen
von lerchenlauter Juliluft ...
Ich schau des Herdrauchs fromme Kreise
zum hohen Blau erblassend ziehn, –
und meine Seele füllen leise
des Friedens süße Harmonien.
Bestimmung
Von dieser Bank hinauszuträumen,
wenn ferner Erdsaum, lichtverwaist,
entgegen den gestirnten Räumen
die Sonne dampfend überkreist! ...
Da fühle deine treue Erde,
wie sie ihr Weltwerk schafft und schafft,
daß jedes Land gesegnet werde
von ihrer Mutter trunkner Kraft!
Und wie du heiß die Arme breitest,
von mächtigem Gefühl erfaßt,
und dein Gemüt zur Menschheit weitest,
die dumpf und dunkel liebt und haßt, –
ergreifst du, was du bist, von ferne,
und, was du darfst, und, was du mußt,
und wirst dir deiner guten Sterne
von neuem still und stolz bewußt.
Brief an Georg Hirschfeld
Mein lieber teurer Georg,
Die Dreckseelen, die über Dich einzigen Kerl sich ausgegeifert haben, haben mich ganz krank gemacht. Ich kann mich immer noch nicht fassen und stehe wieder einmal vor einem Ekel vor der »Welt, dieser Großstadtwelt, der mir den Atem benimmt. Aber nimm Dir's nicht zu Herzen, lieber Kerl, denk' an Böcklin, Klinger, Hauptmann und jeden ändern Charakterkopf, den die Menschen bei seinem Auftreten besudelt haben . . . Lieber Junge, Du lachst vielleicht schon über den ganzen Chorus – aber verzeih ich mußte mich hier erleichtern, ich war' Ja fast umgekommen heut Nachmittag.
Leb wohl Bruderherz, grüß die Deinen!
Dein Christian.
14.V.95.
Horatius Travestitus
Christian Morgenstern: Horatius travestitus
Zwiefach tauchen vor euch, Gebilde flüchtiger Laune,
Menschen, Zeiten mir auf, denen ich lange entrückt;
dort die Jugendgenossen der neun lyzeischen Jahre,
hier der märkischen Stadt erstes, erregendes Bild.
Nur im Scherze entläßt der strenger und älter Gewordne
euer leichtes Geschwätz, das mit dem Klassischen spielt;
und indes der Student dem Dichter lachend die Schuld gibt,
schwört der Dichter bestürzt: Wahrlich, es war der Student!
I,1 – zur wortwörtlichen Übertragung dieser Horaz-Ode (carmen I,1)